Die Knopfmacherin
das Mädchen auf. Für einen Moment wusste sie nicht mehr, wo sie war. Ihr Herz raste, Schweiß lief ihr den Rücken entlang. Als ihr wieder einfiel, dass sie in ihrer Lehrlingskammer war und über dem Nachdenken eingeschlafen sein musste, ließ sie sich auf den Strohsack zurücksinken. Auf ihrem Schoß raschelte noch immer das Pergament.
Als sie die Augen wieder schloss, hatte sie erneut das Bild von Alina vor sich. Es war ein zorniges Gesicht, ein Gesicht voller Anklage, und dennoch war Melisande froh darüber. Rasch richtete sie sich auf, langte nach dem Kohlestift und setzte ihn aufs Papier. Während Melisande versuchte, die Miene ihrer Schwester nicht ganz so grimmig wirken zu lassen, fragte sie sich, was wohl die beiden Krähen zu bedeuten hatten.
»Krähen sind Totenvögel«, erklärte Bernhard ihr am nächsten Morgen, als sie ihm die Zeichnung in die Hand drückte.
Sie fand sie recht gelungen, zumindest waren die Züge ihrer Schwester im Wesentlichen zu erkennen. Allerdings bereute sie es schon wieder, dass sie Bernhard auch erzählt hatte, wie es dazu gekommen war, dass sie mitten in der Nacht zu zeichnen begonnen hatte.
»Totenvögel?«, wiederholte sie entsetzt. War der Traum etwa ein schlechtes Omen? War Alina bereits tot?
»Weißt du das denn nicht? Krähen halten sich vor allem über Schlachtfeldern und Friedhöfen auf. Und beim Henker sitzen sie auf dem Dach. Schlimmer sind bloß die Raben. Hast du schon mal vom Nachtrabb gehört? Er sammelt im Gefolge des Todes die Seelen ein.«
Melisande presste die Lippen zusammen. Lohnte es sich denn überhaupt noch, nach Alina zu suchen?
Als er merkte, dass sie den Tränen nahe war, verstummte Bernhard. »Bitte verzeih, ich wollte dich nicht ängstigen.«
Melisande wischte sich hastig über die Augen und schüttelte den Kopf. »Ist schon gut.«
»Der Traum muss nichts heißen. Du hast selbst gesagt, dass die Krähen die Taube gerettet haben.«
»Und wenn sie nun der Tod geholt hat?« Melisande erschauderte. »Ich hätte gründlicher suchen sollen. An jede Tür hätte ich klopfen sollen!«
»Das hätte dir nichts gebracht«, gab Bernhard zurück. »Höchstens Schimpf und schlimmstenfalls eine Tracht Prügel. Vielleicht ist deine Schwester ja irgendwo untergekommen.«
»Wenn sie frei wäre, dann wäre sie nach Hause zurückgelaufen.«
»Ich könnte jemanden bitten, nach Udenheim zu reiten und nachzusehen. Wenn deine Schwester in eurem Elternhaus ist, kannst du beruhigt sein.«
Melisande musste sofort an den aufdringlichen Zunftmeister denken. Nein, ein Grund zur Beruhigung wäre es nicht, wenn Alina allein zu Hause war. Aber nach Udenheim zurückreiten und nachsehen konnte sie nicht.
»Ich werde das Bild sämtlichen Burschen in der Gegend zeigen. Einer von ihnen hat sie bestimmt gesehen.«
Melisande nickte, wohler war ihr dennoch nicht.
Bernhard strich ihr sanft über die Wange. »Kopf hoch, Melisande. Ich verspreche dir, wir finden sie. Gott ist auf unserer Seite, nur manchmal braucht er ein wenig Zeit, um zu helfen. Immerhin sind wir nicht die Einzigen, die ihn um etwas bitten.«
Das Mädchen sah ihn an und bemerkte zum ersten Mal, dass in seinen Augen silberne Sprenkel funkelten. Trotz seiner Worte durchzog sie plötzlich ein warmer Schauer.
»Was ist mit euch? Kommt ihr irgendwann auch mal in die Werkstatt?«
Die Stimme des Meisters trieb sie auseinander. Ohne dass sie es mitbekommen hatten, war er in der Küchentür aufgetaucht.
Hatten sie etwa so viel Zeit verstreichen lassen?
»Verzeiht, Meister«, sagte Melisande errötend, dann eilte sie, gefolgt von Bernhard, an ihm vorbei zu ihrem Platz.
Als der Morgen heraufdämmerte, erhob sich Alina mit schmerzenden Gliedern von ihrem Lager. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie schon hier war, doch inzwischen hatte sie eines gelernt: dass es besser war, sich den Anweisungen der Hurenwirtin zu fügen. Die Strafen der vergangenen Wochen waren drastisch gewesen. Für zu langsames Arbeiten setzte es die Knute. Dabei verstand es die alte Vettel, so zu schlagen, dass kaum Spuren auf der Haut zurückblieben. Nur die Schmerzen fuhren hinauf bis in den Nacken und brachten das Mädchen dazu, schmerzerfüllt nach Luft zu schnappen.
Alina ahnte mittlerweile, warum die Wirtin solche Rücksicht auf ihren Körper nahm. Noch war sie zu jung, aber schon bald gedachte die Alte, sie ihrer Kundschaft zuzuführen. Das würde ihre Hölle zweifellos verschlimmern, denn Alina bekam tagtäglich mit, welche Dienste die
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