Die Knopfmacherin
aufgebracht hat. Gib ihnen keinen Grund, dir zu schaden.«
In diesem Augenblick war Joß froh, dass Petrus ihn nicht sehen konnte, sonst hätten die Anzeichen von Schuld und Scham auf seinen Zügen verraten, dass er der Gesuchte war.
»Keine Sorge, ich werde den Soldaten möglichst aus dem Weg gehen«, versprach er und hoffte, dass seine Stimme in den Ohren des Alten glaubhaft klang.
Kurz nach dem Abendmahl und dem Gebet zog sich Melisande in ihre Kammer zurück. Das Pergament lag noch immer auf dem Fenster, beide Stücke Kohlestift darauf. Den ganzen Tag über hatte sie keine Zeit gehabt, an das Bildnis zu denken. Knopf um Knopf hatte sie verziert und schließlich auch noch Bernhards Arbeiten übernommen, als der Meister ihn wie erwartet in die Stadt geschickt hatte, um ein paar Dinge für ihn zu erledigen.
Nun fühlte sie sich furchtbar müde, und zum ersten Mal hatte sie keine Lust, nachts in die Stadt zu schleichen. Stattdessen legte sie sich das Pergament auf den Schoß und griff nach einem Stück Kohlestift.
»Bitte, lieber Gott, lass mich Alina sehen«, murmelte sie leise, während sie auf die unberührten Blätter starrte. Die Kerze flackerte munter, und ein paar Funken stieben aus dem Docht. Alinas Bild wollte vor Melisande dennoch nicht auftauchen.
Wer weiß, vielleicht erkenne ich sie gar nicht wieder, wenn ich sie sehe, ging es angstvoll durch ihren Sinn. Dann fragte sie sich, ob sie Alinas Brautknöpfe lieber hätte behalten sollen, statt sie der Nachbarin zu überlassen. Vielleicht tat sie sich deshalb so schwer, sie zu finden …
Die Knöpfe!
Eine Idee ließ Melisande in die Höhe fahren. Rasch lief sie zu ihrem Strohsack und zog die kleine Schatulle mit ihren Brautknöpfen darunter hervor. Das Kerzenlicht legte sich warm auf den Knopfsatz und betonte die feinen Verzierungen. Was war Alina neidisch darauf gewesen, als Melisande die Knöpfe erhalten hatte. Fortan hatte sie ihr jeden Tag in den Ohren gelegen und gefragt, ob der Vater auch schon Knöpfe für sie anfertigte.
Seltsamerweise sah Melisande noch immer nicht das Gesicht ihrer Schwester vor sich. Stattdessen sah sie die edlen Knöpfe an ihrem Brautgewand, und neben ihr, ebenfalls in Hochzeitstracht, schritt Bernhard.
Während sie erschrocken nach Luft schnappte, klappte sie das Kästchen wieder zu.
Lieber Gott, warum schickst du mir solche Gedanken? Warum hilfst du mir nicht, Alina zu sehen?, haderte sie.
Gedankenverloren strich sie über das Kästchen und kniff die Augen fest zusammen. Alina, dachte sie. Alina, wo bist du nur?
Beim Nachdenken wurden ihr die Augen schwer. Den Ruf des Nachtwächters unter ihrem Fenster hörte sie nur noch aus der Ferne, als sie kurz darauf auf ihren Strohsack sank.
Kaum hatte sie der schwarze Mantel des Schlafes umfangen, schlich sich ein Traum an sie heran. Sie stand auf einer Anhöhe in der Nähe von Udenheim. Das erste Frühlingsgrün erschien an den Bäumen, auf den Feldern zeigten sich die ersten Kornhalme, der Himmel über ihr war strahlend blau. Als sie den Kopf in den Nacken legte, vernahm sie plötzlich Krähenrufe. Zwei der schwarzen Vögel kreisten über ihrem Kopf, und es klang, als würden sie sie auslachen.
Melisande wollte ihnen schon zurufen, dass die Tiere sie in Frieden lassen sollten, da ertönte ein anderer Laut. Das schrille Kreischen eines Falken mischte sich in hektisches Flügelschlagen. Sie wendete den Kopf zur Seite und erblickte eine Taube, die verzweifelt versuchte, den scharfen Klauen des Raubvogels zu entkommen. Der Jäger wollte gerade die Klauen in den wehrlosen Vogel schlagen, da hielten die beiden Krähen auf ihn zu. Kurz kreisten sie über der Taube und dem Falken, dann nahmen sie die Wehrlose in ihre Mitte.
Der Falke stieß daraufhin einen ärgerlichen Schrei aus und stieg etwas höher. Vielleicht hoffte er, dass die Krähen die Taube wieder ziehen lassen würden, doch da täuschte er sich, denn die beiden Krähen eskortierten die Taube, bis es dem Raubvogel zu viel wurde und er abdrehte.
Melisande verspürte eine tiefe Erleichterung, denn die Taube war in Sicherheit. Doch warum kreiste sie noch immer über ihrem Kopf und flog nicht in ihren Schlag zurück?
Auf einmal verschwanden die Krähen, und unvermittelt zogen dunkle Wolken auf. Als die Taube zu Boden flatterte, verwandelte sie sich plötzlich in Alina, die in ihrem Nachthemd steckte.
»Melisande«, flüsterte sie beinahe anklagend. »Warum hast du mich nicht gesucht?«
Mit einem leisen Aufschrei fuhr
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