Die Knopfmacherin
So etwas wie Geister gibt es nicht, hatte der Vater immer gesagt. Und falls doch, dachte sie, hätten Mutter und Vater mir längst geholfen, Alina zu finden. Allerdings wollte sie dem seltsamen Bettler nicht an den Kopf werfen, dass seine Geschichte nicht mehr als ein Ammenmärchen war.
»Ich danke Euch für den Ratschlag«, sagte sie daher nur höflich und wollte gerade an dem Alten vorbeigehen, als dessen Hand nach vorn schnellte und sie am Rocksaum packte. Ein leises Reißen ertönte, das sie sofort innehalten ließ.
»Seid Ihr von Sinnen?«, fragte Melisande erbost, worauf der Alte sie anfunkelte, als wäre es tatsächlich der Fall.
»Hüte dich vor diesem Ort und den Gassen bei Nacht, Mädchen. Du hast keine Ahnung von den Schrecken, die hier umgehen.«
Damit ließ der Mann sie wieder los, und Melisande prallte zurück. Obwohl der Bettler ihren Widerwillen erregte, kam sie nicht umhin, ihm direkt in die verblichenen blauen Augen zu sehen.
Was meinte er damit? Während sie noch darüber nachdachte, entwickelte ihr Körper ein seltsames Eigenleben. Er wirbelte herum und trieb ihre Beine dazu an, bis zum Ende der Gasse zu laufen, wo sich vor ihr ein weiter Platz auftat. Als sie den Domplatz erkannte, blieb Melisande stehen und atmete erleichtert auf. Erst als sie sich umsah, erkannte sie, dass sie schon einmal hier gewesen war. An diesen Ort war sie den Reitern gefolgt, unter denen auch jene gewesen waren, die Udenheim nach Joß Fritz durchkämmt hatten.
Hatten die Worte des Alten etwa doch eine Bedeutung gehabt?
Als die Turmuhr über ihr zehn Mal schlug, zuckte sie zusammen. Sie musste zurück in die Werkstatt, ehe der Meister noch glaubte, sie würde ihre Zeit vertändeln. Rasch raffte sie die Röcke und lief, wobei sie sich am Rand der Menge hielt, in Richtung Werkstatt.
20. Kapitel
»Na, wie ist es dir bei Kaufmann Prachtel ergangen?«, fragte Meister Ringhand, als Melisande durch die Werkstatttür trat.
»Ich soll Euch von seiner Gemahlin ausrichten, dass sie die Knöpfe für sehr gelungen hält. Sie hat mir sogar mehr Taler mitgegeben, als Ihr verlangt habt, und meinte, das halte sie immer so.«
»Die Dame des Hauses hat dich bezahlt?« Ringhand zog die Augenbrauen hoch, als wäre er überrascht. »Seit wann denn das?«
Vielleicht seit sie herausgefunden hat, dass ihr Mann es mit der Treue nicht so genau nimmt, hätte Melisande am liebsten erwidert. Doch diesen Gedanken laut zu äußern, versagte sie sich.
»Ich habe mit dem Meister und seiner Gemahlin gesprochen. Er schien nichts dagegen zu haben, dass sie das Geschäft erledigt.« Damit reichte sie dem Meister den Lederbeutel.
Ringhand öffnete ihn, zählte die Münzen auf den Tisch und nickte zufrieden. Statt zwanzig Taler waren es dreißig. War die Summe vielleicht sogar ausgemacht worden und die beiden hatten sie auf die Probe stellen wollen? Unruhe machte sich kurz in Melisandes Bauch bemerkbar, dann sah sie, wie ein Lächeln auf dem Gesicht des Meisters aufflammte.
»Du hast deine Sache sehr gut gemacht, Melisande.«
»Ich danke Euch, Meister.« Das Mädchen senkte den Blick. Sie war sich nicht sicher, ob sie noch einmal in das vornehme Haus wollte. Sollte Ringhand sie erneut hinschicken, würde sie gleich die Hausherrin verlangen.
»Aus diesem Grund und wegen deiner tadellosen Führung in den vergangenen Wochen habe ich beschlossen, dich als Lehrling zu behalten. Du wirst so lange bei mir arbeiten und lernen, bis ich dich als Geselle freispreche.«
Melisande blickte den Meister zunächst ein wenig erschrocken an, dann lächelte sie breit. »Habt vielen Dank, Meister Ringhand, ich werde Euch gewiss nicht enttäuschen!« Ihrem Vater wäre sie jetzt freudig um den Hals gefallen, doch hier wagte sie es nicht.
»Jetzt geh wieder an deinen Platz und beginne, dein Versprechen wahr zu machen. Ich habe es dir bisher nicht gesagt, aber die Knöpfe, die du ab heute schneiden wirst, sind für einen einflussreichen Mann in der Stadt gedacht. Ihn müssen wir auf alle Fälle als Kunden behalten.«
Während Melisande an ihre Werkbank trat, bemerkte sie Bernhards Lächeln. Wieder jagte ihr ein wohliger Schauer über den Rücken, doch diesmal gelang es ihr, sich nichts anmerken zu lassen. Ihr Verbleib in der Werkstatt war gesichert. Das freute sie nicht nur deshalb, weil sie dann weiterhin in Bernhards Nähe sein konnte. Auch die Suche nach Alina konnte sie nun unbehelligt fortführen.
Missmutig trieb Lux Rapp sein Pferd an. Mehrere Wochen waren
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