Die Köchin und der Kardinal
wollte, würde sie am nächsten Tag entscheiden. Und morgen würde sie endlich einmal in das Straßburger Münster gehen.
Am folgenden Tag verabschiedete sich Kardinal Weltlin, um zur Druckerei zu gehen und die Bücher in Auftrag zu geben. Elisabeth und Agnes verließen das Kloster, um im Münster zu beten. Schon das Tympanon des Hauptportals beeindruckte Elisabeth zutiefst. Unzählige Menschengestalten strebten nach oben, auf der anderen Seite nach unten, die einen zum Himmel, die anderen zur Hölle. Die Größe des Schiffes war überwältigend. Elisabeth kniete vor dem Altar nieder und betete. Agnes schaute sich derweil die Kanzel, die bunten Glasfenster und die Bilder an. Als Elisabeth aufstand, trat ein Geistlicher auf sie zu.
»Willkommen in unserer schönen Kirche«, sagte er. »Gibt es etwas Größeres, um Gott zu preisen und ihm zu danken?«
»Ich habe nie etwas Schöneres gesehen«, sagte Elisabeth wahrheitsgemäß.
»Kennt Ihr auch die Sage, die sich um das Münster rankt? Es ist eine Legende, die von den Vätern an die Söhne überliefert wird.«
»Nein, ich kenne sie nicht«, meinte Elisabeth. »Aber ich würde sie gerne hören.«
»Unter dem Münster soll sich eine Krypta befinden oder vielmehr ein unterirdischer See. Wenn man um Mitternacht am Münster vorbeigeht, kann man manchmal das Plätschern dieses Sees hören und das Schlingern des Schiffes, das bis zum Fischerbrunnen fährt. Bei der Apotheke Zum Hirsch gibt es einen Eingang zu diesem unterirdischen Gewölbe, aber wann immer auch ein wagemutiger Straßburger hinabsteigen wollte, wehten ihm ein solch starker Wind und solcher Ruß entgegen, dass er es mit der Angst zu tun bekam und nach Hause lief. Man versuchte mit Stäben herauszufinden, wie tief dieser Eingang war, konnte aber nichts zuwege bringen. Manche berichteten sogar, sie hätten Kröten, Schlangen und Feuersalamander gesehen, die hervorkrochen.«
»Was für eine reizende Geschichte«, sagte Elisabeth. Sie gab ein paar Kreuzer in den Opferstock der Kirche. Doch sie war nicht mehr richtig bei der Sache. Diese Legende hatte sie angerührt. War das nicht ein Sinnbild für den Zustand der Welt, insbesondere der Kirche? Konnte nicht schon im nächsten Moment alles versinken und zerbrechen, zu Staub zerfallen? Oben war unten und unten war oben, wie auch das Relief am Türsturz gezeigt hatte. Elisabeth war froh, als sich Agnes wieder zu ihr gesellte und sie fragte, was sie habe, sie sei so blass.
»Ach, nichts«, sagte Elisabeth. »Ich weiß nur nicht so richtig, wie es mit uns weitergehen soll.«
»Das weiß ich auch nicht«, meinte Agnes. Sie sah klein und verloren aus, wie sie so dastand. Elisabeth nahm sie in die Arme.Sie hatte ihrer Schwester bestimmt schon manches Mal unrecht getan. Auch sie, Elisabeth, war nicht unfehlbar. War nicht ihr ganzes Leben eine einzige Flucht? Hatte sie sich schon einmal für etwas, für einen Menschen, völlig und ganz entschieden? Gab es etwas, für das sie ihr Leben hingegeben hätte? Nein. Sie konnte hingebungsvoll kochen, aber auch dafür würde sie nicht sterben.
Nach drei Wochen waren die Bibeln gedruckt. Mit Einverständnis des Abtes ließ der Kardinal sie in die Bibliothek des Kardinalshofes schaffen, wo der Abt, die Mönche, Elisabeth, der Kardinal und Agnes sie begutachteten. Es waren außerordentlich schöne Exemplare mit Goldschrift auf dem Einband. In der nächsten Zeit kamen immer wieder Bürger der Stadt, um die Bibeln, deren Druck sich schnell herumgesprochen hatte, zu kaufen. Der Sommer verabschiedete sich, die Tage wurden kürzer, es regnete, dann kam wieder die Sonne hervor, die Zugvögel sammelten sich zum Abflug. Weihnachten kam heran, schon das dritte Christfest, das die beiden Schwestern nicht zu Hause verbringen konnten. Elisabeth half in der Küche, wo sie konnte, daneben hielt sie das Zimmer des Kardinals in Ordnung. In der Zeit zwischen den Jahren saß Elisabeth wieder einmal zusammen mit dem Kardinal in der Bibliothek. Es war am späten Morgen. Die Sonne hatte sich seit Tagen nicht blicken lassen. Der Kardinal wirkte still und in sich gekehrt.
»Woran denkt Ihr, Herr Weltlin?«, fragte Elisabeth. So direkt hatte sie ihn noch nie angesprochen.
Er schien sich einen Augenblick lang zu besinnen.
»Ich dachte an ein Weihnachten, das schon lange zurückliegt«, meinte er. »Da war ich noch nicht zum Priester geweiht.« Er stockte. »Doch, ich will es Euch sagen«, fuhr er fort. »Ich liebte ein Mädchen, das ich heiraten
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