Die Könige: Orknacht (Die Könige 1) (German Edition)
Menschen hungerten, nicht nur auf dem Land, sondern auch in den Städten. Zwar waren Andaril, Sundaril und Taig von der Vernichtung durch Winmars Horden verschont geblieben, jedoch waren sie von Zwergenkriegern besetzt, und Winmars Statthalter herrschten dort mit brutaler Gewalt. Die Spitzel des Zwergenkönigs waren überall. Wer ein falsches Wort gegen den König oder seine Schergen verlor, der wurde sofort hingerichtet.
»Alured«, sagte er leise, »was habe ich nur getan?«
»Was meinst du?«, fragte der Freund, der beinahe lautlos neben ihm herritt.
»Ich hätte das alles voraussehen müssen. Ich hätte wissen müssen, was Winmar vorhat.«
»Das konntest du nicht«, suchte der Freund ihn zu beschwichtigen. »Bei allem, was du tatest, hast du stets im besten Wissen gehandelt.«
»Im besten Wissen.« Dag lachte freudlos auf. »Ich bin ein Narr gewesen, unfähig, die Geschicke unseres Volkes zu lenken. Lord Anghas tut gut daran, mir nicht zu vertrauen.«
»Das ist es nicht«, versicherte Alured. »Aber er glaubt, dass das Wort deines Vaters bei den Stämmen mehr Gewicht haben wird. Herzog Osberts Name ist bei allen Clans bekannt. Wenn es jemandem gelingen kann, sie unter einer Fahne zu vereinen, dann ist er das.«
»Zweifellos«, stimmte Dag ohne Zögern zu. »Wir leben in einer Zeit der Krieger, nicht der Denker. Mein Vater hatte auch in dieser Hinsicht recht.«
»Was nicht bedeutet, dass du unrecht hattest.«
Dag verzog den Mund zu einem freudlosem Lächeln. »Weißt du noch, früher? Als wir Kinder waren und unten am Fluss gespielt haben? Wir haben Schiffe aus Binsen gebaut und Häfen aus Steinen. Wir dachten, dass so die Zukunft aussehen würde.«
»Ich erinnere mich«, erwiderte Alured. »Aber wir haben auch den Umgang mit dem Schwert geübt.«
»Ja, weil mein Vater darauf bestand.« Das Lächeln verschwand von Dags Zügen, ein Kloß saß plötzlich in seiner Kehle. »Ich habe ihn enttäuscht, Alured. So wie ich jeden in Ansun enttäuscht habe. Aber diesmal werde ich alles richtig machen. Ich werde alles geben, um euer Vertrauen zu rechtfertigen und meinen Vater zu befreien. Und danach werde ich gehen.«
»Wohin?«
»Nach Süden, zu Aryanwen.«
»Du willst erneut davonlaufen?«
Nicht Alured hatte das gesagt, sondern Cailan, Lord Anghas’ junger und sonst so schweigsamer Sohn. Er ritt dicht hinter ihnen und hatte offenbar alles mitangehört. Nun brachte er sich ungefragt in das Gespräch ein.
»Was willst du damit sagen?«, fragte Dag. An die Art der Hochländer, so ziemlich alles, das ihnen in den Sinn kam, offen auszusprechen, konnte er sich nur schlecht gewöhnen.
»Ganz einfach«, erwiderte Cailan, während er sein Pferd an Dags andere Seite brachte. »Du bist schon einmal geflohen und willst es offenbar wieder tun.«
Dag wandte den Kopf und tat so, als schaue er den jungen Clansmann an, den er sich mit blondem Haar und kantigen, kecken Gesichtszügen vorstellte. »Von einer Flucht war nicht die Rede«, stellte er klar.
»Das war vermutlich auch beim letzten Mal nicht der Fall«, konterte der Junge, dessen Stimme seltsam krächzte, so als ob sie sich noch im Umbruch zum Mannesalter befand. »Dennoch musste der Druide mondelang nach dir suchen, bis er dich endlich aus jenem dunklen Loch gezogen hat.«
Dag hörte, wie Alured neben ihm tief Luft holte. Doch weder widersprach der Freund, noch ergriff er für Dag Partei. War er schon so sehr Hochländer geworden, dass er sich an ihrer dreisten Art nicht störte? Oder war er etwa Cailans Meinung?
»Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun«, behauptete er. »Als Sohn des Herzogs habe ich eine hohe Verantwortung übernommen und bin ihr nicht gerecht geworden.«
»Du bist voller Selbstmitleid«, warf Cailan ihm vor. »Dir ist ein schreckliches Unrecht widerfahren, aber denkst du, anderen wäre es besser ergangen? Hat Alured dir jemals gesagt, was die Zwerge ihm angetan haben?«
»Nein«, ließ Alured sich nun doch vernehmen, »tu das bitte nicht!«
»Wieso nicht? Er soll ruhig wissen, dass sie dich gebrandmarkt und deine ganze Familie getötet haben!«
Dags Kopf flog herum. »Ist … das wahr?«
Die Antwort war kaum zu vernehmen. »Ja.«
»Aber du hast es mir nie erzählt.«
»Weil«, erwiderte Alured ebenso schleppend wie leise, »du genug mit dir selbst beschäftigt warst.«
Die Worte waren ein Schlag ins Gesicht. Und Dag hatte das Gefühl, dass er diesen Schlag verdient hatte.
Seine Gefährten hatten recht.
Er hatte Unrecht
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