Die Koenigin der Schattenstadt
Untergrund.
Barcelona war ein Ort der Schatten geworden.
Die Reisende hielt die fiebrig glühenden Augen geschlossen. Sie sprach zu den anderen und die anderen sprachen zu ihr. Auf jeder Galeone, die über dem Land und der See schwebte, gab es eine wie sie. Ein Wesen aus Papier und Schrift, das ihr Augen und Ohren war.
»Entwischt«, murmelte Kassandra Karfax und die schmalen Lippen aus Papier kräuselten sich in Wut. »Sie sind entkommen«, knisterte sie und ging unruhig an Deck auf und ab. »Alle beide.« Dort, wo ihr im Gesicht die Haut fehlte und sich vergilbte Fetzen von altem Pergament an ihrer statt spannten, kräuselten sich die Buchstaben auf dem Papier, wütend und rastlos. »Nuria ist tot und Catalina unauffindbar.«
Die Harlekine und Silberaugenmatrosen machten einen Bogen, wenn sie Kassandra erblickten.
»Wenigstens ist Lisboa in meiner Hand«, teilte die Reisende Sarita mit.
»Was ist mit Malfuria?«, fragte Sarita Soleado. Sie trug eine Brille mit dunklen Gläsern und konnte damit selbst die allertiefste Nachtschwärze ohne Mühe durchdringen.
Kassandra Karfax lächelte und ihr Lächeln, das kaum mehr war als ein dunkelblauer Tintenstrich, ließ Sarita frösteln. »Die Mephistia hat ihr Gesicht gezeigt«, sagte sie. »Überall in Lisboa wehen Rabenfedern durch die Straßen.«
»Und La Gataza?«
Kassandra Karfax zischte wütend, als sie den Namen hörte. »Sie gehört jetzt uns.«
Sarita stand still da und fragte sich, was als Nächstes passieren würde. Seitdem sie das Antlitz La Sombrías erblickt hatte, fühlte sie sich so kalt und so leer, als habe sie einen schlechten Traum gehabt. Sie hätte nie gedacht, dass die Königin der Schattenstadt so aussehen würde. Sie kannte ihr Bildnis, das sich gerahmt in der Casa de l’Ardiaca befunden hatte. Kassandra Karfax hatte es gemalt, vor langer, langer Zeit, als die Schattenstadt noch ein kleines Dorf gewesen war, so hatte sie es ihr erzählt. Jetzt war La Sombría hier. Und Saritas Fragen waren beantwortet worden. Die Königin der Schattenstadt hatte die Straßen und Gassen Barcelonas erobert und es war, als wäre eine spiegelverkehrte Schnittstelle geboren worden, die nichts als Chaos brachte.
Die Welt, das spürte Sarita, verweigerte sich dem, was hier geschah. Es lag in der Luft, die so kalt war, dass selbst der Atem in der Luft gefror und Sarita einen Mantel tragen musste.
»Wir werden nach Gibraltar gehen«, sagte Kassandra Karfax. Sie blieb stehen und gab einem der Harlekine Anweisungen, die dieser augenblicklich an die Silberaugenmatrosen weitergab. »La Sombría kann nicht auf ewig in Barcelona bleiben.«
»Was müssen wir tun?«
»Du musst die Karte zeichnen, aber das kannst du nicht allein. Eine so große Aufgabe wie diese erfordert mehr als nur eine Kartenmacherin. Deine Tochter darf uns nicht noch einmal entkommen. Ihr Talent ist zu groß.« Die Reisende sah zur See hinaus. »Wir werden ihr eine Falle stellen.«
Sarita blickte auf. »Woran habt Ihr gedacht?«
Finsterfalter flogen zwischen den Segeln der Galeonenstadt hindurch nach Montjuic.
»An einen Köder«, sagte Kassandra Karfax, »an einen Köder.«
Ein Tosen erfüllte die Nacht, ganz plötzlich.
»Ein dunkler, dunkler Sturm kommt auf«, sagte Kassandra Karfax mit einem zufriedenen Rascheln in der rauen Stimme.
Sarita lauschte den Geräuschen. Eine Flutwelle aus Fledermausflügeln und Finsterfaltern näherte sich in der Dunkelheit. Selbst mit der Brille fiel es ihr schwer, etwas Genaues zu erkennen.
»Was ist das?«, fragte sie.
Kassandra Karfax trat an die Reling.
Das Rauschen wurde lauter, erfüllte die Nacht wie etwas, das von den Toten auferstanden ist. Es schälte sich aus der Dunkelheit wie ein Sturm aus tiefster Nacht und schwarzen Federn. Eisige Böen wehten über das Deck, sodass Sarita Soleado beim Anblick dessen, was ihr die Dunkelgläser zeigten, schier der Atem stockte.
»Malfuria«, sagte Kassandra Karfax, »ist zu uns gekommen.« Sie lachte ihr knisterndes Lachen, und als die Königin der Schattenstadt zu ihnen trat, da wusste Sarita Soleado, dass es Überraschungen gab, die sie nie hatte kennenlernen wollen.
Rätsel
»Du kannst sprechen?« Catalina war noch immer fassungslos. Sie hatte sich auf das alte Fensterbrett mit den Holzvertäfelungen gesetzt und starrte den Kater an, der gleich hinter ihr auf dem Teppich hockte, mitten in dem runden Windmühlengeschoss, und seine Flügel putzte.
»Natürlich kann ich sprechen.« Er lachte schnurrend.
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