Die Koenigin der Schattenstadt
das ist der Grund, weshalb wir nicht lieben dürfen. Und das ist der Grund, weshalb du deinen Vater niemals kennengelernt hast.«
Sarita hörte die Worte noch Jahre später und sie lebten in der Skizze, die Catalina nun vor sich sah, weiter.
Worte waren es, die wie Messerstiche trafen.
Kurz, kühl und schneidend wie die Nacht.
Sarita wanderte über Land und fuhr über die See. Sie litt Hunger, Durst und allzeit versteckte sie sich vor den Raben, denn jedes Federvieh konnte ein Bote ihrer Mutter sein. Sie wollte nie wieder zu ihr zurückkehren. So frei ihr Äffchen auch gewesen war, so sehr war Sarita die Gefangene gewesen, immer schon. Nuria hatte ihr von einem Sturm namens Malfuria erzählt, vor dem sie sich in Acht nehmen müsse. Auch vor anderen Wesen müsse sie sich in Acht nehmen. Kartenmacherinnen waren selten geworden in der Welt.
Ach was!
Sarita kümmerte sich nicht darum. Sie war allein, wie sie es vorher gewesen war. Allein, verängstigt und hungrig. Dann traf sie auf eine schöne Frau, die ihr Hilfe anbot.
Catalina schluckte. Sie kannte das Gesicht, das jetzt in einem der neuen Bilder auftauchte. Es hatte sich tief in ihre Seele eingebrannt, obwohl sie es nur einmal in ihrem Leben gesehen hatte. Kassandra Karfax.
Die Frau, die Catalina dazu gebracht hatte, Malfuria zu zerstören.
»Du bist also Sarita Soleado«, sagte Kassandra Karfax, als sie das Kind, das noch keine Frau war, am Hafen einer Stadt bei Nacht entdeckte. Sarita weinte. Allein ihren Namen zu hören, erschreckte sie schon. »Du bist die Kleine, die nicht zeichnen darf.«
Sarita sah zu ihr auf. Die schöne Frau mit dem Gesicht aus Papier und Haut reichte ihr lächelnd die Hand. »Ich kann dich an einen Ort bringen, an dem du sicher bist. An einen Ort, der voller Wunder ist. An einen Ort, an dem du das tun kannst, was dein Herz dir sagt.« Ein Finger aus knittrigem Papier berührte das Mädchen an der Stirn und Sarita fühlte, wie ihr das Glück in die Augen schoss. Sie weinte und der Papierfinger fing all die Tränen so mühelos auf, als habe er nur auf diesen Moment gewartet.
Sie gab der Frau die Hand. Und dann ihr Herz.
Und ging mit ihr auf eine lange Reise.
Catalina stöhnte.
»Was hast du?«, fragte Miércoles.
»Sie hat sie gekannt. Schon seit ihrer Kindheit.«
Der Sphinx wusste nicht, wovon sie sprach.
»Meine Mutter«, erklärte Catalina mit brüchiger Stimme. »Sie hat die Frau aus Papier gekannt. Kassandra Karfax.«
Sie schaute wieder in sich.
Sah . . .
Die Stadt aus Nacht und Nirgendwo.
Doch sie sah anders aus. Viel kleiner, ruhiger. Sarita Soleado reiste mit der Papierfrau in einer Kutsche aus Eisen und Dampf. Da war ein Palast, in den man sie brachte. Und in dem Palast gab es Räume voller Bücher, Karten und Stifte.
Endlich durfte Sarita Soleado zeichnen. Sie durfte der Stadt ein Gesicht geben. Wunder lebten unter einem Himmel aus Papier. Überall waren Farben und Kassandra Karfax war so anders als Nuria Niebla. Sie hörte Sarita zu. Sie sprach mit ihr. Sie erlaubte ihr Dinge, die ihr die Nebelhexe verboten hatte. Sie gab ihr das Gefühl, geliebt zu sein.
Hier, an diesem seltsamen fernen Ort, hatte Sarita Soleado jemanden gefunden, der eine Mutter für sie war. Hier war sie glücklich. Hier wollte sie bleiben, für alle Zeit.
Catalina rieb sich müde die Augen.
Die Bilderflut wollte nicht verebben. Schnelle und ruckartige Momentaufnahmen wechselten einander eilig ab.
Kassandra Karfax verkündet Sarita, dass sie die Stadt der Schatten würde verlassen müssen. –
Sarita weint und ihr neues Herz droht zu zersplittern. –
Die Papierfrau nimmt sie in die Arme, streichelt ihr übers Haar. Sie gibt ihr ein Versprechen: Sie wird sie nach Barcelona geleiten, der singenden Stadt. Dort, sagt sie, gibt es einen Kartenmacher. Arcadio Márquez ist sein Name. Bei ihm soll Sarita die Kunst des Kartenmachens erlernen. –
Die Papierfrau verspricht ihr, sie niemals zu verlassen. –
Sie erzählt ihr die Geschichte von einem Rabenfedernsturm, der die Schattenstadt zerstören will.
Sarita hört bangen Herzens zu. Sie will nicht, dass dieser Ort hier verschwindet. Alles ist bunt und schön und . . .
Catalina schnappte nach Luft. Die Bilder zerflossen zu einer Pfütze dunkler Erinnerungen. Es war vorbei.
»Wie geht es dir?« Miércoles war die ganze Zeit über dicht bei ihr gewesen.
»Nicht gut«, antwortete sie.
Hatte Sarita die gleiche Leidenschaft gehabt wie ihre Tochter? War das die Verbindung zwischen ihnen
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