Die Koenigin der Schattenstadt
nach dem zweiten griff, fiel ihr Blick auf etwas, das sie schon fast vergessen hatte.
Es war unter die Anrichte gerutscht, nur eine Ecke sah hervor. Catalina kniete sich hin, zog es hervor und berührte es, ganz zaghaft nur, als habe sie Angst davor, dass es zerfallen könnte.
»Was hast du gefunden?«, fragte Miércoles und kam zu ihr gelaufen.
Sie schaute in die güldenen Augen. »Ein neues Rätsel«, sagte sie, »und vielleicht – vielleicht auch eine Antwort.«
Wie Farbe, die durch Bilder weht
Es war die Karte, die Márquez ihr gezeigt hatte, jene Karte, die einst von Sarita Soleado angefertigt worden war. Catalina kniete lange vor ihr, bevor sie sie aufhob. Dann entrollte sie die Karte auf dem Fensterbrett.
Es war ein Stadtplan auf brüchigem, zerfranstem Pergament. Er zeigte Barcelona, wie es einmal gewesen war. Im Jahre 1889. Wie vor ein paar Tagen streckte Catalina auch jetzt die Hand aus, um die feinen Linien auf der Karte zu berühren.
Sie waren noch immer lebendig, und wenn sie die Striche und die schraffierten und ausgemalten Flächen anfasste, dann wurden sie ganz warm und fast war es so, als würden sie . . . atmen.
Es war eine lebendige Karte der singenden Stadt, und sobald man die Jahreszahl am Kartenrand berührte, veränderten sich all die Linien auf ihr. Häuser wuchsen, wo vorher nur Felder gewesen waren, Fabriken entstanden am Stadtrand und die Hafenmauer wurde länger und breiter.
»Sarita hat sie gezeichnet«, sagte Catalina. Sie starrte die Karte an. »Vielleicht hat sie noch andere Karten gezeichnet.« Ihr fiel auf, dass sie Sarita sagte und nicht Mutter .
Sie schaute sich um.
Wo hatte Márquez diese Karte hergeholt?
Die ganze Zeit über hatte sie nicht daran gedacht und doch war es so offensichtlich! Sie waren dort drüben gewesen, fast in der Küche, und der alte Mann hatte ihr etwas sagen wollen. Er war durch den Raum gegangen und . . .
Sie sah hoch. Ja, dort war es.
Die Landkarte aus dem 16. Jahrhundert!
Sie hing an der Wand über dem knatternden Kühlschrank. Der alte Kartenmacher hatte den Rahmen, in dem sich die Landkarte befunden hatte, sorgsam abgehangen.
Catalina ging zu der Stelle hin und griff mit zitternden Fingern nach dem Bild.
Hinter dem Rahmen war ein Loch in der Mauer.
»Keine schlechte Idee«, sagte Miércoles anerkennend.
Sie fasste hinein.
»Und?«
»Da ist Papier«, murmelte sie aufgeregt. »Viel Papier.«
Stück um Stück zog sie kleine zerknüllte Zettel und gefaltete Fetzen bunten Pergaments hervor. Sie faltete es schnell auseinander, eins nach dem anderen, und sah, dass es jemand über und über mit Bildern überzogen hatte.
»Was ist das?«
»Ich weiß es nicht.« Sie hielt die Zettel in ihren Händen. »Zeichnungen, Skizzen vielleicht.«
»Von Márquez?«
Sie schüttelte den Kopf. »Von meiner Mutter«, sagte sie.
»Woher weißt du das?«
»Sie sehen aus wie die Karte der Stadt.«
»Das kannst du erkennen?«
»Die Striche und Linien sind wie eine einzigartige Handschrift, die zu ihrem Besitzer gehört. Jeder Kartenmacher kann das erkennen.«
Miércoles trat neben sie und blickte neugierig auf die Bilder.
Catalina beachtete ihn nicht. Stattdessen ging sie zum Tisch und ordnete die Zettel und Kartenfetzen nebeneinander, was mühsam war, weil die Windmühle immer wieder ruckartige Bewegungen zur Seite machte.
Es gab Bruchstücke von Karten und nicht beendete Skizzen, Figuren und Formen, koloriert, aber ohne Sinn. Sie musste an die Zeichnung mit der schwarzen Galeone denken, die Márquez ihr gezeigt hatte. Diese Papierfetzen hier sahen ähnlich aus. Und hatte Sarita Soleado den Zettel mit dem fliegenden Schiff nicht in der Windmühle gelassen, um sie zu warnen? Andererseits, wenn sie es recht überlegte, war der Zettel doch eher so etwas wie eine Falle gewesen.
Eine der Zeichnungen zog Catalinas Blicke besonders auf sich. Sie war nicht wirklich kunstvoll und auch nicht auffällig. Es war nur ein einfaches Blatt Papier, rissig an den Rändern und ein wenig vergilbt. Die Zeichnung, die ihre Mutter vor Jahren angefertigt haben mochte, zeigte eine Hand, nichts weiter. Schön und grazil, die Hand einer Frau. Ein Tintenglas und ein Tuschestift waren auch noch ins Bild gemalt. Das war alles.
»Was wirst du jetzt tun?«
»Die andere Karte«, antwortete Catalina, »hat mich erkannt, als ich sie berührt habe.«
Miércoles ging in der runden Kammer auf und ab. »Vielleicht hat Márquez das gemeint? Was ist, wenn er dir genau diese Karten
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