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Die Koenigin der Schattenstadt

Die Koenigin der Schattenstadt

Titel: Die Koenigin der Schattenstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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zeigen wollte?«
    Catalina nickte. »Die Karte der singenden Stadt ist vielleicht nur der Anfang gewesen.«
    Am Ende gab es nur einen einzigen Weg, es herauszufinden.
    Catalina berührte das Pergament, das vor ihr lag.
    Sie tat es instinktiv, weil sie das schon immer gern getan hatte. Wenn Márquez ihr ein neues Werk gezeigt hatte, dann war der Drang, die Karte zu berühren, da gewesen. Selbst die kleinsten Unebenheiten auf dem Pergament und in der Zeichnung konnte man ertasten. Sogar Skizzen hatten ihren ganz eigenen Reiz.
    Die Stellen, wo die getrocknete Tinte kleine Hügel bildete, wo Farben zu rauen oder weichen Flächen wurden. Manchmal gab einem eine Berührung wie diese das Gefühl, die tatsächliche Landschaft zu fühlen. Es war, als glitte tatsächlich ein Meer oder eine Insel oder eine Stadt unter den Fingern dahin.
    Catalina berührte die Zeichnung, und sobald ihre Hand in die Nähe der Linien kam, regten sie sich – erst langsam, dann zunehmend schneller.
    Die Zeichnung erkannte, dass sie Saritas Tochter war. Und sie begann zu ihr zu sprechen.
    Nicht in Worten, sondern in schwarzer Tinte, in leise geflüsterten Buchstaben, die ihr durch die Haut in den Körper flossen und von dort in ihren Verstand und direkt in ihr Herz.
    Es war die Stimme ihrer Mutter, die Catalina hörte.
    Oder nein, nicht ganz. Es war nicht die Stimme der Sarita, die sie kannte, und auch nicht die Stimme der Sarita, die ihr in der Sagrada Família begegnet war.
    So musste Sarita Soleado geklungen haben, als sie noch jung war. Es war wie eine Melodie, die Catalina an Barcelona erinnerte. Die Stimme der singenden Stadt, die Melodien, die in ihren Straßen gelebt hatten und auf ihren Plätzen, die Lieder, die voll des Lichts und fern der Schatten gewesen waren, hier waren sie wieder, eingefangen in der Stimme ihrer Mutter.
    Weiter fuhren Catalinas Finger über das Papier und die Linien und Striche bewegten sich schneller und schneller, wie winzige Wesen, die jemand aufgeweckt hatte. Die gezeichnete Hand erwachte zum Leben, sie wölbte das Papier und griff nach dem gezeichneten Tuschestift und der Tinte.
    Erschrocken und gleichzeitig fasziniert beobachtete Catalina, wie die Hand den Tuschestift dort ansetzte, wo das Mädchen es spüren konnte. Auf seiner eigenen Haut.
    Die gezeichnete Hand begann ihr Werk.
    Winzig kleine Bilder waren es zuerst, die sie malte, dann eine Bilderflut, die lautstark zum Leben erwachte. Catalina hörte die leisen Stimmen und sie sah die Ereignisse, erst auf ihrer Haut, dann in ihrem Kopf. Es war, als würde sie selbst zu einem Teil der Zeichnung.
    Catalina wandelte durch die Welt ihrer Mutter.
    Und sie sah, erst verschwommen, dann ganz deutlich . . .
    Ein Mädchen.
    Allein.
    Ein Mädchen in abgewetzten Hosen und mit nackten Füßen. Sie spielte an einem Strand, der hell und wunderschön war. In der Ferne fuhren die Boote der Fischer in den Tag hinein. Fast sah es aus wie in der Cala Silencio, doch die Felsen kündeten davon, dass dies ein anderer Strand war, an einem anderen Ort. Das Mädchen jedenfalls lachte fröhlich und ein kleines Äffchen sprang um sie herum. Sie neckte das Tier, köderte es mit Früchten. Die beiden tollten ausgelassen über den Sand und blieben schließlich ganz erschöpft in der Sonne liegen.
    »Ich male dir ein Haus«, sagte das Mädchen zu dem Äffchen, »genau dort drüben soll es stehen.« Dann streckte sie den Finger aus und tauchte ihn in den Sand. Ganz konzentriert zeichnete sie ein kleines Haus in den Sand und drüben, bei den Pinien, begann die Luft zu flimmern, als sich ein Haus aus dem Nichts zu formen begann.
    Kurz darauf fiel ein Schatten auf das Mädchen. Es hob den Blick und dort stand eine Frau, in deren Augen sich Zorn und Angst spiegelten. Sie schlug dem Mädchen ins Gesicht und schrie es an. »Was hast du getan? Habe ich dir nicht verboten zu zeichnen?«
    Die Frau, die Nuria Niebla war, nur jünger, hörte nicht auf zu schimpfen. Nichts würde gut enden, wenn Sarita sich nicht zu benehmen wüsste, sagte sie. Jemand, der mit alledem nichts zu tun habe, würde den Preis zahlen müssen. Deswegen war es Sarita untersagt, auch nur den geringsten Strich zu ziehen. Sie durfte es nicht tun. Nicht mit Tinte, nicht mal mit dem Finger im Sand.
    So laut schimpfte Nuria, dass weder Sarita noch sie selbst den Skorpion bemerkten, der durch den heißen Sand krabbelte. Auch das Äffchen sah ihn nicht kommen. Sein Kreischen, erfüllt von Schrecken und Schmerz, war es, das Nuria

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