Die Königin der Weißen Rose
sie einzusetzen. Die Männer aus Kent unter Nevilles Kommando haben sich um den Tower und die Stadtmauern herum niedergelassen. Aber sie schlafen, als das Ausfalltor geöffnet wird und Anthony sich mit seinen Männern hinausschleicht. Ich halte ihnen das Tor auf, Henry Bourchier ist der Letzte. «Euer Gnaden, meine Cousine, verriegele das Tor hinter uns und bring dich in Sicherheit», sagt er zu mir.
«Nein, ich warte hier», antworte ich. «Sollte es schiefgehen, werde ich hier sein, um meinen Bruder und euch alle wieder hereinzulassen.»
Er lächelt. «Nun, ich hoffe, wir kommen siegreich zurück», sagt er.
«Gott sei mit euch!», erwidere ich.
Ich sollte das Tor schließen und verriegeln, aber ich tue es nicht. Ich stehe im Tor, um zuzusehen. Ich fühle mich wie die Heldin einer Geschichte, die schöne Königin, die ihre Ritter in die Schlacht schickt und über sie wacht wie ein Engel.
Zunächst sieht es exakt danach aus. Mein Bruder schleicht sich barhäuptig in seinem kunstvoll verzierten Brustpanzer zum Lager, das Breitschwert in der Hand, gefolgt von seinen Männern – von unseren treuen Freunden und denen, die zu uns gehören. Im Mondlicht sehen sie aus wie Ritter auf Aventiure, in der Ferne schimmert der Fluss, und der Nachthimmel wölbt sich dunkel über ihnen. Die Rebellen haben ihr Lager auf einem Feld am Fluss aufgeschlagen, und weitere sind in den engen, verdreckten Straßen der Umgebung untergebracht. Es sind arme Männer; einige haben Zelte und Unterstände, doch die meisten schlafen auf dem Boden rund ums Lagerfeuer. In denStraßen vor den Stadtmauern gibt es viele Bierschenken und Bordelle, und die Hälfte der Männer ist betrunken. Anthonys Truppe formiert sich in drei Teile, und auf ein geflüstertes Wort hin verwandelt sich die Szene schlagartig. Sie setzen die Helme auf, klappen die Visiere über ihre freundlichen Augen, zücken die Schwerter, lösen die schweren Kugeln ihrer Morgensterne und verwandeln sich von Sterblichen in Männer aus Eisen.
Irgendwie spüre ich auf meinem Platz am Tor die Veränderung, die über sie kommt. Obwohl ich sie ausgeschickt habe und sie mich verteidigen, habe ich das Gefühl, etwas Schlechtes und Böses werde passieren. «Nein», flüstere ich, als wollte ich sie daran hindern, mit vorgehaltenen Schwertern und schwingenden Äxten vorzupreschen.
Schlafende Männer kommen stolpernd und schreiend vor Panik auf die Füße, schon sitzt ihnen eine Klinge im Herzen, schon ist ihr Kopf von einer Axt gespalten. Es gibt keine Warnung: Sie werden von einer kalten Klinge aus Sieges- oder Heimatträumen gerissen, in einen qualvollen Tod. Die dösenden Schildwachen springen auf und schlagen Alarm und liegen schon stumm da, mit aufgeschlitzten Kehlen. Die Männer schlagen wild um sich. Ein Mann stürzt kopfüber in die Flammen des Lagerfeuers, er schreit in Todesqualen, aber niemand kommt ihm zu Hilfe. Unsere Männer legen Feuer an Zelte und Decken. Wiehernde Pferde scheuen vor Angst, als die Flammen vor ihnen auflodern. Jetzt sind alle wach im Lager, sie rennen panisch umher, und Anthonys Männer gehen wie stumme Mörder zwischen ihnen um. Sie stechen auf Liegende ein, die gerade den Schlaf abschütteln. Sie drücken Männer zu Boden, die eben aufstehen wollen, schlitzen Unbewaffneten die Bäuche auf, schlagen andere nieder, die noch ihre Schwerter suchen. Die Armee aus Kent schrickt ausdem Schlaf und rennt los. Wer nicht zu Boden geht, packt, was er greifen kann, und rast davon. Sie wecken die Männer in den Straßen um den Tower, und einige kommen auf das Feld gelaufen. Anthonys Männer wenden sich ihnen brüllend zu und greifen sie an, die Schwerter rot vor Blut, und die Rebellen, Landjungen großenteils, machen kehrt und flüchten panisch.
Anthonys Männer setzen hinter ihnen her, doch er ruft sie zurück. Er will den Tower nicht schutzlos lassen. Eine Gruppe schickt er an die Kais, sie sollen Nevilles Schiffe kapern; der Rest geht zum Tower zurück, sie reden laut und aufgeregt in der Kälte des Morgens. Sie rufen sich etwas über einen Mann zu, den sie im Schlaf erstochen, über eine Frau, die sie im Wegrollen geköpft haben, über ein Pferd, das sich im Aufbäumen vor dem Feuer selbst das Genick gebrochen hat.
Ich öffne ihnen das Ausfalltor. Ich will sie nicht grüßen, will sie nicht sehen, nicht hören. Ich gehe hinauf in meine Räume, hole meine Mutter, die Mädchen und das Baby und verriegele stumm die Tür unseres Schlafzimmers, als fürchtete ich mich
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