Die Königliche (German Edition)
Leder war eine Art Mappe, die lose Blätter enthielt. Als sie die Mappe mit einer Hand ungeschickt aufklappte und ein Blatt Papier an die Lampe hielt, sah sie Schnörkel, seltsame Senken, Bogen und Schrägstriche.
Jetzt fiel es ihr wieder ein: die eigenartige verschnörkelte Handschrift ihres Vaters. Sie hatte einmal etwas davon ins Feuer geworfen. Sie war damals nicht in der Lage gewesen, die Buchstaben zu lesen. Jetzt verstand sie, warum.
Noch mehr verschlüsselte Geheimnisse , dachte Bitterblue und atmete tief durch. Mein Vater hat seine Geheimnisse in Chiffren aufgezeichnet.
Vielleicht macht es nichts, dass keiner, den Leck verletzt hat, mehr da ist, der mir sagen kann, was er getan hat; dass niemand mir die Geheimnisse verraten will, die alle zu verstecken versuchen, die Geheimnisse, die alle in ihrem Schmerz einschließen. Denn Leck kann es mir selbst sagen. Seine Geheimnisse werden mir verraten, was er getan hat, um mein Königreich so zu zerstören. Und endlich werde ich es verstehen.
Es waren fünfunddreissig Bücher. Bitterblue brauchte Hilfe, schnell; sie brauchte Helda, Bann und Giddon. Und so schloss sie alle Türen hinter sich und weckte sie.
Auf ihr beharrliches Klopfen hin kamen drei verschlafene Menschen an drei Türen, hörten sich ihre hektischen Erklärungen an und gingen sich dann anziehen. »Würden Sie bitte meinen Wachmann Holt holen?«, bat sie Bann, der ohne Hemd an seinem Türrahmen lehnte und aussah, als würde er jeden Moment bewusstlos zu Boden sinken, wenn sie ihn ließe. »Wir brauchen ihn, damit er die Holzbretter abreißt, mit denen die Tür zu meinem Wohnzimmer vernagelt ist, und er muss es leise tun, damit wir die Tagebücher unbemerkt in meine Räume schaffen können, und, um Himmels willen, beeilen Sie sich!«
Als Holt kam, war Hava bei ihm, weil Holt gerade Hava in der Kunstgalerie besucht hatte, als Bann ihn fand. Bitterblue, Hava, Holt, Giddon und Bann schlichen mit mehreren Lampen die Treppe hinunter in das Labyrinth, ein seltsamer, lautloser, mitternächtlicher Suchtrupp. Sie glitten um Ecken bis zu Lecks Tür.
Bitterblue vergaß sie zu warnen; als sie die Tür aufschloss und alle hineinscheuchte, vergaß sie Holt und Hava vorzuwarnen, dass der Raum voll mit Bellamews Skulpturen war. Hava, entsetzt von ihrem Anblick, flackerte verwirrt und verwandelte sich erst in eine Skulptur und dann wieder in ein Mädchen.
»Er hat sie zerstört«, sagte sie mit leiser, wütender Stimme, als sie die Laterne dicht an eine davon hielt. »Er hat sie mit Farbe beschmiert.«
»Sie sind trotzdem schön«, sagte Bitterblue ruhig. »Er hat versucht sie zu zerstören, aber ich glaube, es ist ihm nicht gelungen, Hava. Sieh sie dir an. Bleib hier und nimm dir Zeit für sie – ich brauche deine Hilfe bei den Büchern nicht.«
Holt stand vor der Skulptur mit dem Kind, dem Flügel und Federn wuchsen. »Das bist du, Hava«, sagte er. »Ich erinnere mich.«
»Ich brauche Ihre Hilfe, Holt«, sagte Bitterblue. »Kommen Sie mit.«
Holt ließ den Blick langsam durch das Zimmer schweifen. Seine Augen blieben an dem leeren Bettgestell hängen. Als er schließlich Bitterblue ansah, wurde sie von seinem Ausdruck etwas nervös, da etwas Aufgewühltes darin lag, das sie in den Augen eines Beschenkten mit der Gabe der Stärke, der bekannt für seine Unberechenbarkeit war, lieber nicht gesehen hätte. »Holt?«, sagte sie und streckte die Hand aus. »Kommen Sie bitte mit?«
Holt nahm ihre Hand. Sie führte ihn wie ein Kind in den hinteren Teil des Raumes, die Treppe hinauf, und zeigte ihm die Bretter, mit denen ihre Wohnzimmertür vernagelt war. »Können Sie die so leise entfernen, dass niemand von der Monsea-Wache, der möglicherweise im Labyrinth patrouilliert, es hört?«
»Ja, Königin«, sagte er, griff mit beiden Händen nach einem Brett und zog so sanft daran, dass es sich mit nichts als einem leisen schabenden Geräusch von der Wand löste.
Zufrieden überließ Bitterblue Holt seiner Aufgabe und huschte die Treppe hinunter zu Giddon und Bann, die darauf warteten, hinter den Wandbehang und durch den Tunnel zu Lecks Büchern geführt zu werden.
Als sie den Schrank mit den Büchern erreicht hatten, schickte Bitterblue Giddon weiter den Gang entlang, um zu sehen, wohin er führte. Irgendjemand musste es tun und sie konnte es nicht ertragen, sich von den Büchern zu trennen. Dann fingen sie und Bann an, die Bücher aus den Regalen zu nehmen und sie in Lecks Zimmer zu tragen, wo sie sie auf
Weitere Kostenlose Bücher