Die Königliche (German Edition)
Straßen und Wegmarken vom Stadtplan wiederzufinden, die sie sich eingeprägt hatte, aber das war hier draußen schwieriger als auf Papier. Sie musste grob Richtung Süden. Schließlich verlangsamte sie den Schritt und bog in eine Straße ein, deren Häuser vollkommen verfallen wirkten. Sie schwor sich, dass sie sich nie wieder in die Lage bringen würde, mit so viel Kleingeld in den Stiefeln rennen zu müssen.
Einige der Häuser sahen aus, als hätte man sie ausgeschlachtet und das Holz mitgenommen. Ein Umriss in der Gosse, der sich als Leichnam entpuppte, erschreckte sie und jagte ihr noch größere Angst ein, als er plötzlich ein Schnarchgeräusch von sich gab: ein Mann, der tot roch, aber offensichtlich nicht tot war. Er hatte den Arm schützend um ein Huhn geschlungen, das an seiner Brust döste.
Als sie auf ein weiteres Erzähllokal stieß, wusste sie irgendwie sofort, worum es sich handelte. Es funktionierte nach demselben Prinzip wie das andere: eine Tür in einer Gasse, Leute, die ein und aus gingen, und zwei streng aussehende Gestalten, die mit verschränkten Armen vor der Tür standen.
Bitterblues Körper traf die Entscheidung für sie. Die Wachhunde ragten bedrohlich auf, hielten sie aber nicht zurück. Hinter der Tür führte eine Treppe hinunter zu einer zweiten Tür, die sie in einen Raum voller Licht einließ, der nach Keller und Apfelmost roch und von der hypnotischen Stimme eines weiteren Geschichtenerzählers gewärmt wurde.
Bitterblue kaufte sich etwas zu trinken.
Die Geschichte handelte ausgerechnet von Katsa. Es war eine der schrecklichen, aber wahren Geschichten aus Katsas Jugend, als ihr Onkel Randa, der König des zentralsten der sieben Königreiche, der Middluns, sich ihrer Fähigkeit zu kämpfen bedient und sie gezwungen hatte, in seinem Namen seine Feinde zu töten oder zu verstümmeln.
Bitterblue kannte diese Geschichten; sie hatte sie von Katsa selbst gehört. Die Version dieses Geschichtenerzählers war zum Teil richtig. Katsa hatte es verabscheut, für Randa töten zu müssen. Aber andere Teile der Geschichte waren übertrieben oder unwahr. Die Kämpfe waren spektakulärer und blutiger, als Katsa es je zugelassen hätte, und Katsa wurde melodramatischer geschildert, als Bitterblue sie sich überhaupt vorstellen konnte. Bitterblue hätte den Geschichtenerzähler am liebsten angeschrien, weil er Katsa falsch darstellte, wollte Katsa verteidigen, und es verwirrte sie, dass der Zuhörerschaft diese falsche Version von Katsa offenbar gefiel. Für sie existierte diese Katsa wirklich.
Als Bitterblue sich in jener Nacht der östlichen Mauer des Schlosses näherte, fielen ihr mehrere Dinge gleichzeitig auf. Erstens waren zwei der Laternen oben auf der Mauer erloschen und ein Abschnitt war in solch tiefe Dunkelheit getaucht, dass sich Bitterblue misstrauisch auf der Straße umsah und ihren Verdacht bestätigt fand. Die Straßenlaternen auf diesem Stück waren ebenfalls erloschen. Als Nächstes bemerkte sie eine kaum wahrnehmbare Bewegung auf halber Höhe der dunklen, glatten Mauer. Ein Umriss, der sich bewegte – sicherlich ein Mensch –, der aber verharrte, als ein Mitglied der Monsea-Wache oben vorbeiging. Sobald der Wachmann weg war, setzte die Bewegung wieder ein.
Bitterblue begriff, dass sie gerade jemanden dabei beobachtete, wie er an der Ostmauer des Schlosses hinaufkletterte. Sie trat in den Schutz einer Ladentür und versuchte zu entscheiden, ob sie jetzt gleich Alarm schlagen oder warten sollte, bis der Eindringling es die Mauer hinauf geschafft hatte, wo er festsitzen würde und ihn die Wachen leichter fangen konnten.
Allerdings kletterte der Eindringling gar nicht bis ganz oben auf die Mauer. Er hielt kurz unterhalb der Kante inne – direkt unter einem kleinen steinernen Schatten, in dem Bitterblue einen der vielen Wasserspeier erkannte, die auf Vorsprüngen hockten oder über die Kante ragten und zu Boden starrten. Ein schabendes Geräusch setzte ein, das sie nicht zuordnen konnte, und verstummte vorübergehend, als der Wachmann erneut oben vorbeiging. Dann begann es von neuem. Das ging eine ganze Weile so weiter. Bitterblues Verblüffung verwandelte sich bereits in Langeweile, als der Fassadenkletterer plötzlich »Puh« sagte, ein krachendes Geräusch ertönte und er dann in einem halbwegs kontrollierten Fall mit dem Wasserspeier die Mauer wieder hinabglitt. Ein Komplize, den Bitterblue bisher nicht bemerkt hatte, bewegte sich im Schatten am Fuß der Mauer und fing
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