Die Königsmacherin
murmelte die Muhme. Bertrada mochte gar nicht daran denken, daß des armen Gequälten auch nach dem Tod noch weitere Prüfungen harrten.
Schweigend kehrten sie zu der Höhle zurück.
»Es war nicht recht, ihn nackt vor seinen Schöpfer treten zu lassen«, sagte die Muhme plötzlich, »aber der Herrgott wird ihn zu kleiden wissen. Du brauchst das Tuch dringender.« Sie deutete zum Höhleneingang. »Er hat dir auch noch ein Beinkleid hinterlassen.«
Die Kleidung eines Aussätzigen? Bertrada starrte auf ihr Erbe, das von Eiter verschmierte, schmutzstarrende Lumpenbündel, und setzte zu einer Entgegnung an. Die Muhme kam ihr jedoch zuvor. »Vielleicht zieht sich das Gewebe noch etwas zusammen, wenn ich den Stoff mit heißem Wasser übergieße und reichlich Asche hineinreibe. Der Mann war nicht viel größer als du.«
Die Muhme, die Bertrada kein einziges Mal nach ihrem Namen oder ihrer Herkunft gefragt hatte, riet ihr, im nächsten Kloster um Beistand nachzusuchen. Bertrada schüttelte nur den Kopf. Man würde sie in den Klöstern der näheren Umgebung auch in einer armseligen, viel zu kurzen Tunika erkennen. Sie konnte nicht zurück, aber sie wollte auch nicht an eine Zukunft denken. Sie war der Muhme dankbar, daß diese nicht mehr auf ihren Plan vom Sterben zurückkam. Nach der jüngsten Erfahrung schämte sie sich, an einen derart leichten Ausweg überhaupt gedacht zu haben.
Das Schuhwerk erwies sich als die größte Schwierigkeit.
»Ich kann doch nicht mit bloßen Füßen durch den Wald wandern!« rief Bertrada.
»Warum nicht?« fragte die Muhme verblüfft. »Wir haben doch Sommer!«
Sie beugte sich vor, musterte die Füße des Mädchens und stieß einen überraschten Laut aus. Hastig verbarg Bertrada den linken Fuß hinter ihrem rechten Bein.
»Die Glänzende«, murmelte die Muhme und Bertrada erschrak bis ins Mark. Wie oft hatte ihr Vater sie so genannt, auf die Bedeutung ihres Namens anspielend! Wußte die Muhme etwa, wer sie war? Hatte sie von ihrem kleinen schäbigen Hof aus auf die stolz vorbeireitende Grafentochter geblickt?
»Lang, lang ist's her, daß mir meine Ahne von der Schwanenjungfrau berichtete«, fuhr die Muhme fort und schaute über Bertradas Kopf hinweg in eine Ferne, der kein Felsgestein den Weg verstellte. »Als Zeichen ihres höheren Wesens kann sie den großen Fuß nicht ablegen – und auch nicht verstecken«, setzte sie hinzu und blickte wieder zu Bertrada.
»Höheres Wesen?« fragte Bertrada verwirrt.
»Meine Ahne, der Herr nehme sich ihrer an, mochte die Götter, die sie so lange geschützt hatten, nicht verärgern. Vor allem nicht Frigg, die Gemahlin Odins, die um die Zukunft weiß und die Liebe gewährt. Wenn sie als weise Frau auf Erden wandelt, nennt sie sich manchmal Berchta, die Glänzende, oder auch Frau Holle, die den Menschen hold ist. Der Redliche, der ihren Gänsefuß sieht, weiß, ihm wird nichts Übles widerfahren. Ein Mensch, dem dieser Fuß verliehen wird, steht unter dem besonderen Schutz der weisen Frau, sagte meine Ahne.«
Während Bertrada zögernd ihren linken Fuß wieder hervorzog und ihn betrachtete, als sähe sie ihn zum ersten Mal, ergriff die Muhme den Holunderzweig und schälte mit einem rostigen Messer sorgfältig die Rinde ab. »Was dir am Bach Böses geschah, wird sich in Gutes wandeln, denn es geschah im Schatten des Hollerbuschs.« In eintönigem Singsang berichtete sie von einem namenlosen Strauch, der sich bei der Göttin der alten Zeit einst bitter über seine Nutzlosigkeit beklagt hatte. Aus Erbarmen mit seiner Not füllte sie daraufhin seine Beeren, Blüten, Blätter und Rinde mit Heilkraft. Dies zeichnete ihn vor allem anderen Gebüsch aus. Er stand unter ihrem besonderen Schutz, und so verlieh sie ihm einen Namen, der an sie erinnerte.
»Der Hollerbusch fehlt seit jener Zeit auf keinem Hof«, schloß die Muhme.
Bertradas Augen waren zugefallen. Die Muhme legte das Messer beiseite, holte aus den Tiefen der Höhle ein Fell, warf es über das schlafende Mädchen und flüsterte ihr ins Ohr: »Der Herr segne dich und deinen Fuß. Verbirg ihn nicht, sei stolz auf das Zeichen der Berchta.«
In den Wochen, die Bertrada bei der Muhme blieb, erfuhr sie, welche Schätze der Wald barg und wie sie zu heben waren. Wie recht doch ihre Mutter gehabt hatte! Der Wald bot alles zum Leben – man mußte es nur zu finden wissen. Wenn sie sich früher zum Ausruhen an den Stamm einer Eiche gelehnt hatte, wäre ihr nie eingefallen, über die Heilkraft seiner
Weitere Kostenlose Bücher