Die Königsmacherin
Rinde nachzudenken. Sie hatte Bitterklee und Jungfernkraut zertreten, ohne zu wissen, daß sie Geschwüre heilen konnten, war achtlos an der Kuckucksblume vorbeigeritten, die den Darm beruhigte, am Weihwedel, der ihn anregte, am Gillwurz, der das Herz, und am Wolfsstrauch, der die Muskeln stärkte. Sie hatte gedankenlos Zweige von Bäumen abgebrochen, deren Blätter die Leber reinigten, Augenbrennen linderten oder Magenkrämpfen entgegenwirkten. Sie hatte Himbeeren, Brombeeren und Stachelbeeren an den Sträuchern gelassen, weil sie keine Kratzer an ihren zarten Händen wünschte, und sich nach Blaubeeren nicht gebückt, um sich die Finger nicht zu verfärben. Wurzeln waren ihr bisher nur Hindernisse für Roß und Reiterin gewesen, nicht Gottesgaben, die den Magen füllen konnten, ebenso wie Bucheckern, Nesseln, Pilze und mancher Stengel, auf dem sie früher unbekümmert herumgekaut hatte.
An einem Abend brach sie in Tränen aus, als sie auf die struppigen Körbchenblüten der Goldraute blickte, die ihr die Muhme hinhielt. Erst vor wenigen Wochen hatte ihre Mutter sie im Kräutergarten auf die vielseitige Verwendung der hübschen Pflanze mit dem aromatischen Duft hingewiesen. Bertrada hatte lustlos ein Stück abgerissen, in den Mund gesteckt und es dann voller Abscheu wieder ausgespuckt. »Ekelhaft!« hatte sie gerufen. »Wie das ganze Gemüse! Mich langweilt der Garten!« Sie war zum Haus gerannt, um mit einem Schluck Wein den widerlich scharfen Geschmack zu vertreiben. Jetzt würde sie diesen Garten nie wieder sehen, nie wieder den leisen Tadel aus der sanften Stimme ihrer Mutter heraushören, nie wieder zum Vergnügen ausreiten.
»Du bist zu jung, Kind, um zurückzuschauen. Das ist das Vorrecht der Alten«, sagte die Muhme, als ahnte sie, was Bertrada bewegte. »Und du kannst nicht für immer bei mir im Wald bleiben. Du mußt unter die Menschen gehen. Ich werde dir den Weg zum nächsten Kloster weisen.«
Wieder schüttelte Bertrada den Kopf. Das nächste Kloster war viel zu nah. Aber es stimmte, sie durfte nicht bei der Muhme bleiben, denn irgendwann würden die Männer Pippins auf der Suche nach ihr bestimmt den Wald durchkämmen. Sie wunderte sich, daß dies nicht schon längst geschehen war, keine Rufe durch den Wald hallten, kein Echo ihren Namen zurückgab. Sollte sich Leutberga etwa auch noch in Saint Denis für sie ausgegeben haben? Unmöglich. Wirklich? Bertrada erschauerte leicht, als sie daran dachte, wie sogar im Grafenhaushalt ihre Ähnlichkeit gelegentlich zu Verwechslungen Anlaß gegeben hatte – und zu mancherlei Gerüchten über Leutbergas Abstammung. Aber selbst Mima hatte die Verwandtschaft beharrlich geleugnet: »Es ist die Milch und die Nähe. Menschen, die von Anfang an in einem Bett schlafen, gleichen sich einander an.« Ihre Eltern aber würde man nicht täuschen können, dachte Bertrada wieder einmal, und der Betrug würde spätestens dann auffallen, wenn das Bein ihres Vaters wieder geheilt war und er mit der Mutter die verheiratete Tochter aufsuchte. So vorwitzig Leutberga auch war, sie würde es nicht wagen, den Sohn des Hausmeiers zu heiraten. Nein, man hielt Bertrada wohl für verloren und tot, von wilden Tieren aufgefressen. Wie hätte sie auch nackt im Wald überleben sollen?
Für die Welt bin ich gestorben. Bertrada gibt es nicht mehr, nur eine heimatlose Gefährtin der Muhme, die von ihr ›Kind‹ genannt wird. Aber ich bin erwachsen und muß lernen, meinen Weg allein zu gehen. Zurück kann ich nicht. Besser, meine Eltern trauern um ihre verlorene Tochter, als daß sie meinetwegen der Schande ausgesetzt sind, wenn ich wegen Unzucht zum Tode verurteilt werde. Ich habe doch von dieser Strafe gehört! Oder gilt das Gesetz nur für verheiratete Frauen? Oder nur für Unfreie? Vielleicht ist es ja auch abgeschafft oder gerade erst erlassen worden. Warum bloß habe ich mich nie mit solchen Dingen beschäftigt? Noch vor wenigen Tagen lag meine Zukunft im Südwesten. Ich werde also nach Nordosten wandern, bis ich einen Ort finde, an dem ich bleiben kann. Meine Zukunft liegt in Gottes Hand.
Sie teilte der Alten ihren Entschluß mit. Flüsternd äußerte sie eine Sorge: »Und wenn wieder so ein Mann kommt …?«
Die Muhme musterte sie nachdenklich und bemerkte schließlich: »Mich würde keiner anrühren. Mache dich mir gleich, und du bist sicher.«
Am nächsten Morgen zog sich Bertrada die Tunika aus. Unter Anleitung der Alten wälzte sie sich in Schlamm, bestrich sich die Haut mit
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