Die Königsmacherin
gelehrt hatte, und dazu fiel ihr eine weitere Lektion aus den vergangenen Tagen ein: »Rinde von der Ostseite des Baumes hat mehr Kraft, weil sie von der Morgensonne beschienen wird.«
»Weil du so bereitwillig gelernt hast, will ich dir noch zwei Dinge mitgeben«, murmelte die Muhme, griff in ihre Rocktasche und zog eine Hasenpfote hervor, die sie mit einem kräftigen Halm um Bertradas linken Arm band. Bertrada wußte um diesen Zauber. Mima hatte sie und Leutberga früher auf dieselbe Weise vor Gefahren beschützt. Aus jener Höhlenecke, in der die Muhme ihre Kräuter aufbewahrte und trocknete, holte sie einen kleinen Zweig und steckte ihn Bertrada ebenfalls in die Tasche. »Was ist das, und wozu dient es?« richtete die Grafentochter zum letzten Mal an die Muhme jene Frage, die sie in den letzten drei Tagen wohl Hunderte von Malen gestellt hatte.
»Wermut. Er wird dich vor bösen Geistern beschirmen. Gott schütze dich, mein Kind, er wird dir den Weg weisen, denn du bist eine Glänzende.«
Sie wandte sich ab und ging in die Höhle zurück.
»Geh«, rief sie zu Bertrada hinaus. »Ich will dich nicht mehr sehen, wenn ich mein Feuer entzünde.«
Unschlüssig blieb Bertrada stehen. Ihr fiel der Abschied schwer, doch die Alte rief mit verärgerter Stimme: »Fort mit dir! Du hast mir schon genug Zeit gestohlen!«
Schweren Herzens wandte sich Bertrada ab. Sie blickte zum Himmel, richtete sich nach Nordosten und tat den ersten Schritt von Abertausenden, die sie einem unbekannten Schicksal zuführen würden. Sie tastete nach dem Dolch, dem Feuerstein und Wermut in ihrer Tasche, den Wurzeln, die ihr die Alte für den ersten Hunger mitgegeben hatte, und blickte auf die Hasenpfote. Noch nie war sie so reich beschenkt worden, und sie hatte sich nicht einmal dafür bedanken dürfen.
Sie wanderte den ganzen Tag lang durch den Wald. Es gab nur selten einen Pfad, und Bäume und Sträucher erlaubten ihr nicht immer, eine Richtung zu halten. Einmal mußte sie um ihr Leben laufen, als ein Wildschwein aus dem Unterholz hervorbrach und unmittelbar auf sie zustürzte. Hinterher konnte sie nicht mehr sagen, wie sie auf den Baum gelangt war, der sie vor dem tobenden Tier geschützt hatte, und es dauerte Stunden, ehe sie es schaffte, wieder hinabzuklettern. Gegen Sonnenuntergang hielt sie Ausschau nach einem geeigneten Platz für die Nacht, fand dann in der ausladenden niedrigen Astgabelung einer Eiche ein unbequemes, aber einigermaßen sicheres Lager. Am nächsten Abend war sie zunächst froh, wieder eine Höhle entdeckt zu haben, flüchtete aber schnell, als frische Spuren darauf hinwiesen, daß hier wohl ein großes Tier seine Heimstatt hatte.
Sie mußte genau darauf achten, wohin sie ihren Fuß setzte, und verbot sich in den ersten Tagen jegliches Denken, das über den nächsten Schritt hinausführte.
»Möchtet Ihr etwas trinken?« Die Stimme der Magd riß Bertrada aus der Erinnerung an jene Tage, als sie morgens nicht wußte, ob sie den Abend erleben, und nachts nicht, ob sie am Morgen erwachen würde. Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde aufstehen. Bring mir meine Kleidung«, befahl sie, als befände sie sich in ihrem Zimmer in Laon. Unschlüssig blickte die Magd auf die Frau im Bett, von der das Gesinde in der Abtei munkelte, sie sei eine fremdländische Prinzessin, der furchtbare Prüfungen auferlegt worden waren, weil sie unter dem Fluch eines bösen Zauberers stand. Bertradas linker Fuß war nicht unbemerkt geblieben, allerdings schrieb ihn keiner im Klosterumfeld einer Schwanenjungfrau zu. »Ich gebe der Herrin Bescheid«, murmelte die Magd, die sich nichts sehnlicher wünschte, als daß sich die Abgesandte des Teufels baldigst trollte.
Hocherfreut, daß sich ihr Gast so schnell erholt hatte, eilte Frau Berta in das Krankenzimmer.
»Nach einer durchschlafenen Nacht und ohne die Farben von Wald und Flur bietest du einen erheblich erfreulicheren Anblick, Flora«, bemerkte sie, legte ein Kleid aus feinem Leinen auf das Bett und setzte hinzu: »Ich nehme an, du ziehst dieses Gewand deinem gestrigen vor?«
Bertrada strich über den feinen Stoff, der nur eine einzige Verzierung aufwies: An den Ärmeln prunkte eine zarte Stickerei der siebenblättrigen Rose des Grafen von Laon, ausgeführt von überaus geschickten Fingern.
»Ich danke Euch, Herrin«, antwortete sie jetzt auch in der Sprache ihres Vaters. »Ich bin wieder bei Kräften und kann Euch ab jetzt zu Diensten sein.«
»Dann sollten wir aufbrechen«, erklärte
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