Die Königsmacherin
trockene Reisig begann zu knistern. Bertrada setzte sich neben das Feuer und beobachtete, wie die Alte mit einem langen Stock eine trübe Flüssigkeit im Kessel umrührte.
»Was hat deiner Schwester Enkelsohn in die Flucht getrieben?« fragte sie.
»Eine Hochzeit!« erwiderte die Alte barsch. Sie tauchte eine Schale aus Rinde in den Kessel und reichte Bertrada mit zitternden Händen das scharf riechende Gebräu, in dem widerlich grüne Schlieren schwammen. »Trink! Das wird dich zu Kräften bringen.« Bertrada schloß die Augen und nahm mit angehaltenem Atem einen kleinen Schluck. Wie konnte etwas so scheußlich aussehen und so gut schmecken! Rasch leerte sie das Gefäß und reichte es der Alten zurück.
»Nimm dir selbst«, knurrte diese, »du siehst doch, daß ich mit meinem Zittern die Hälfte verschütte! Also, der Herr Graf forderte eine neue Abgabe aus Anlaß der Verehelichung seiner Tochter. Und weil der arme Junge seit zwei Jahren nicht einmal das Geld für Kopfsteuer und Zins aufbringen konnte und seine Frau das achte Kind unter dem Herzen trägt, blieb der Familie nur die Flucht.«
»Dann hat er schlecht gewirtschaftet«, entschied Bertrada, nachdem sie die Schale abermals geleert hatte. Sie entsann sich der Klagen ihres Vaters über seine arbeitsscheuen Hörigen.
Wie zwei schwarze Nadeln bohrten sich die Augen der Muhme in ihre. »Dann sag mir doch, welche Zeit zum Wirtschaften bleibt, wenn der Herr Graf fünf Wochentage Frondienst für sich beansprucht?«
Aus dem Innern der Höhle erklang leises Stöhnen. Es schwoll schnell zu einem solch durchdringenden Ächzen an, daß eine aufgeschreckte Vogelschar wild flatternd emporstieg. Das Grunzen eines Wildschweins in der Ferne ging in anderen Tiergeräuschen unter. Der Wald war lebendig geworden.
»Steh auf und wisch ihm das Gesicht ab«, forderte die Muhme. Bertrada hielt die Knie fest umklammert und schüttelte entsetzt den Kopf.
Seufzend erhob sich die Alte und sagte sanft: »Komm, Kind, ich zeig's dir. Es wird Zeit, daß du lernst, was Sterben wirklich heißt.«
Mit großem Widerwillen folgte Bertrada der Muhme in die Höhle. Sie zuckte voller Abscheu zurück, als dem Sterbenden eine eitrige Flüssigkeit aus dem Mund lief. Die Muhme drückte ihr einen Stoffetzen in die Hand. »Mach seinen Mund sauber und halte den Kopf hoch. Er darf nicht ersticken. Solch ein Tod ist zu qualvoll. Los!« fuhr sie Bertrada an, die wie erstarrt neben dem stinkenden Bündel Mensch hockte und die Luft anhielt.
»Wer sich nach dem Tod sehnt, sollte sich nicht scheuen, ihm auch ins Angesicht zu schauen«, sagte die Muhme sanft. »Schau hin, hilf und lern!«
Bertrada hatte keine Wahl. Seltsame Gedanken flogen ihr durch den Kopf, während sie stumm den Anordnungen der Muhme folgte: Ich habe mich an Gott versündigt, weil ich sterben wollte. Jetzt übernimmt dieser Mann meinen Tod wie Leutberga mein Leben übernommen hat. Wenn ich ihm das Sterben erleichtere, wird mir Gott ein neues Leben schenken. Es ist eine Prüfung, die mir der Herr auferlegt. Ich kann sie nur bestehen, wenn ich Schrecken und Abscheu besiege, wenn ich es schaffe, mein Herz so weit zu öffnen, daß mich Augen, Nase und Ohren nicht zur Flucht bewegen.
Sie lernte Ekel und Brechreiz zu bezwingen, wenn der faule Dunst aus den Geschwüren und der scharfe Geruch der Ausscheidungen ihre Nase trafen. Sie lernte, dem Liegenden Flüssigkeit zwischen die verwüsteten Lippen zu träufeln und ihn dabei zu halten, ohne ihm zusätzliche Schmerzen zu bereiten. Sie lernte, das dröhnende Stöhnen und andere bedrohliche Geräusche im Leib des Mannes zu ertragen. Das Halbdunkel in der Höhle half ihr, das Grauen vor dem entstellten Körper zu beherrschen. Und sie lernte, daß Sterben harte Arbeit war.
Drei Nächte später hauchte der Mann mit dem Kopf in ihrem Schoß im Morgengrauen endlich sein Leben aus. Sie half der Muhme, dem Toten das Hemd auszuziehen, überwand ihren Abscheu vor dem ausgezehrten, verunstalteten, leblosen Leib, den Schrecken, als dieser noch einmal zuckte und Absonderungen von sich gab, und verrichtete stumm die Aufträge, die ihr die Muhme in kurzen Worten erteilte. Gemeinsam schleppten sie den Toten durch das Gebüsch auf eine Lichtung. Er fand sein Grab mit nach Osten gewandtem Kopf unter Zweigen und Blättern, denn es gab nichts, womit man die von der Sommersonne hartgebackene Erde hätte aufbrechen können.
»Mögest du der Züchtigung des Jüngsten Gerichts und den Feuerbränden entkommen«,
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