Die Kolonie
erzählen, an irgendeinem abgeschiedenen Ort in der Gummizelle der Mitternacht. Wichtige Geschichten, die wir jahrelang mit uns herumtragen, aber niemals erzählen. Diese Geschichte sind Geister; sie schaffen es, Menschen von den Toten auferstehen lassen. Nur für einen Augenblick. Für einen kurzen Besuch. Jede Geschichte ist ein Geist. Dies ist Olsons Geschichte.
Miss Leroy schmolz Schnee in ihrem Mund und spuckte das Wasser zwischen Olson Reads fette rote Lippen; sein Gesicht war das Einzige an ihm, was sie anfassen konnte, ohne daran kleben zu bleiben. Kniete neben ihm. Des Teufels erster Schritt zur Unzucht. Dieser Kuss, dieser Augenblick. Für den Olson sich aufgespart hatte.
Mehr als ihr halbes Leben lang hat sie keiner Menschenseele erzählt, was er da gebrüllt hat. Eine schwere Last, die sie mit sich herumgeschleppt hatte. Jetzt erzählt sie es jedem, und das ist auch nicht besser.
Dieses verbrühte, traurige Etwas da am White River schrie: »Warum tun Sie das?«
Es schrie: »Was habe ich getan?«
»Grauwölfe«, sagt Miss Leroy und lacht. Die Sorge haben wir nicht. Hier nicht, sagt sie. Nicht mehr.
Olson starb an Myoglobinurie. Bei ausgedehnten Verbrennungen setzt die verbrannte Muskulatur das Protein Myoglobulin frei. Eine solche Proteinschwemme legt jede Niere lahm. Die Nieren hören auf zu arbeiten, im Körper sammeln sich Flüssigkeit und Blut-Toxine an. Nierenversagen. Myoglobinurie. Wenn man Miss Leroy diese Worte aussprechen hört, wirkt sie wie eine Zauberin. Die Worte könnten ein Zauberspruch sein. Eine Beschwörungsformel.
So zu sterben, zieht sich eine Nacht lang hin.
Am nächsten Morgen kam das Räumfahrzeug durch. Der Fahrer fand die beiden: Olson Read tot, Miss Leroy im Tiefschlaf. Weil sie die ganze Nacht lang Schnee im Mund geschmolzen hatte, war ihr Zahnfleisch voller weißer Flecke. Erfrierungen. Reads tote Hände umkrallten immer noch die ihren, schützten ihre Finger wie ein warmes Paar Handschuhe. In den nächsten Wochen löste sich das erfrorene Zahnfleisch von jedem einzelnen Zahn, fiel ihr in weichen grauen Stücken aus dem Mund, bis ihre Zähne so aussahen, wie sie jetzt immer noch aussehen. Bis auch ihre Lippen abgefallen waren.
Desquamation nekrotischen Gewebes. Noch so ein Zauberspruch.
In den Wäldern ist nichts, erklärt Miss Leroy den Leuten. Nichts Böses. Nur etwas sehr Trauriges und Einsames. Olson Read, der immer noch nicht weiß, was er falsch gemacht hat. Was das alles soll. So furchtbar einsam, dass sogar die Wölfe und Kojoten diesen Teil des White River verlassen haben.
So funktioniert eine Schauergeschichte. Sie spricht uralte Ängste an. Macht längst vergessene Schrecken wieder lebendig. Dinge, von denen wir uns gern einbilden, dass wir sie hinter uns gelassen haben. Aber sie können uns immer noch das Fürchten lehren. Dinge, von denen wir gehofft hatten, sie seien längst verheilt.
Jede Nacht ist voll davon. Von umherirrenden Leuten, die nicht zu retten sind, die aber nicht sterben können. Man hört sie nachts dort draußen schreien, auf dieser Seite des White River.
In manchen Februarnächten hängt noch der Geruch von heißem Fett in der Luft. Von knusprigem Speck. Olson Read, der seine Beine nicht mehr spürt, aber immer noch in den Wald gezerrt wird. Er schreit. Er krallt seine Finger in den Schnee, aber diese kleinen Zähne lassen ihn nicht los und zerren ihn in die Finsternis.
21
Mrs. Clark erklärt, der Mensch verbrennt im Schlaf durchschnittlich fünfundsechzig Kalorien pro Stunde. Wenn man wach ist, verbrennt man siebenundsiebzig Kalorien in der Stunde. Bei langsamem Gehen zweihundert. Nur um am Leben zu bleiben, braucht man tausendsechshundertfünfzig Kalorien am Tag.
Der Körper kann nur etwa tausendzweihundert Kalorien in Form von Kohlenhydraten vorrätig halten - die meisten davon in der Leber. Wenn man einfach nur am Leben ist, verbrennt man in weniger als einem Tag alle vorrätigen Kalorien. Danach verbrennt man Fett. Danach Muskelgewebe.
Jetzt werden Ketone ins Blut abgegeben. Der Serumacetonspiegel schießt in die Höhen der Atem beginnt zu riechen. Der Schweiß stinkt wie Bastelleim.
Leber, Milz und Nieren schrumpfen und atrophieren. Der untätige Dünndarm füllt sich mit Schleim und schwillt an. Der Dickdarm wird von Geschwüren zerfressen.
Wenn man verhungert, verarbeitet die Leber Muskelfleisch zu Glukose, um das Gehirn am Leben zu halten. Wenn man verhungert, legt sich das nagende Hungergefühl. Man ist nur noch müde.
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