Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kolonie

Die Kolonie

Titel: Die Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
Vom Netzwerk:
Schule ging es mit ihren Noten bergauf. Sie beteiligte sich nicht an der Cheerleader-Gruppe. Sie spielte weder Basketball noch Fußball. Sie hörte immer nur zu und las und ging wieder nach Hause. Sie beobachtete die Vögel am Himmel. Ihren Goldfisch im Glas.
    Aber sie weigerte sich, die Teilprothese zu tragen, da konnte Mrs. Clark noch so betteln und drohen - drohen, sich selbst zu verletzen. Mrs. Clark konnte sich mit glühenden Zigaretten den Arm verbrennen, und ihre Tochter saß daneben und schaute zu. Und inhalierte den Geruch.
    Cassandra hörte immer nur zu. Wenn Mrs. Clark sie anflehte, sie anbrüllte, sie bat, doch bitte ein bisschen auf ihr Äußeres zu achten. Auf die Menschen zuzugehen. Mit einem Anwalt zu sprechen. Wieder ins Leben zurückzukehren. Was auch immer. Bei alldem hörte Cassandra nur zu.
    »Meine eigene Tochter«, sagt Mrs. Clark, »so freundlich wie eine Zimmerpflanze.«
    Ein weiblicher Roboter, der am Ende der Schulzeit nur Einsen in dem Zeugnis hatte, aber zum Abschlussball ging sie nicht. Traf sich nie mit irgendwelchen Jungen. Hatte keine Freundinnen. Eine Albtraum-Box, die irgendwo hoch oben in irgendeinem Regal vor sich hintickte.
    »Sie hat Tag für Tag da gesessen«, sagt Mrs. Clark, »wie andere Leute in der Kirche sitzen.«
    Schweigend. Hoch aufgerichtet. Mit leuchtenden Augen. Nur erzählt hat sie nicht, nie etwas davon verlauten lassen, was in ihrem Kopf vorging. Cassandra hat nur mit Augen und Ohren wahrgenommen. Sie war nicht mehr das Mädchen, das ihre Mutter gekannt hatte, sondern eine andere. Eine Statue, die von der Höhe eines Altars auf sie hinabschaute. Eine Statue, die vor tausend Jahren in einem Dom gemeißelt worden war. In Europa. Eine Statue, die wusste, dass Leonardo da Vinci sie geschaffen hatte. So wirkte Cassandra auf die Leute.
    Jetzt sagt Mrs. Clark: »Das hat mich wahnsinnig gemacht.«
    Zu anderen Zeiten war es, als lebte man mit einem Roboter. Oder einer Bombe. An manchen Tagen wartete Mrs. Clark förmlich darauf, dass irgendein Guru oder Verrückter anrief und Cassandra zu sprechen verlangte. Manche Nächte schlief Mrs. Clark bei verschlossener Schlafzimmertür und mit einem Messer unterm Kopfkissen.
    Kein Mensch wusste, was aus diesem schweigenden Mädchen werden sollte. Sie hatte etwas erlebt, von dem sich niemand auch nur die geringste Vorstellung machte. So viel Qual und Entsetzen, dass ihr die Lust zu erzählen ein für alle Mal vergangen war. Aufregung, Freude oder Leid, sie braucht nichts dergleichen mehr in ihrem Leben.
    Du gehst in ein Zimmer, machst den Fernseher an, isst eine Tüte Popcorn, und dann erst merkst du, dass sie die ganze Zeit neben dir auf der Couch gesessen hat.
    Echt, sie war wirklich unheimlich, diese Cassandra.
    Einmal saßen die zwei beim Abendessen in der Küche, und Mrs. Clark fragte, ob Cassandra sich an die Albtraum-Box erinnere. Ob dieser Abend in der Galerie irgendetwas mit ihrem Verschwinden zu tun gehabt habe?
    Und Cassandra sagte: »Das hat in mir den Wunsch geweckt, Schriftstellerin zu werden.«
    Danach konnte Mrs. Clark nicht schlafen. Wollte ihre Tochter nicht mehr im Haus haben. Wünschte, sie ginge aufs College. Zur Armee. In ein Kloster. Ganz egal. Hauptsache weg.
    Und eines Tages rief Mrs. Clark die Polizei an und meldete Cassandra als vermisst.
    Natürlich hatte sie das ganze Haus abgesucht. Mrs. Clark wusste ja, wie Cassandra sich in der Tapete oder dem Sofamuster auflösen konnte. Aber sie war tatsächlich nicht mehr da.
    Die ausgebleichten gelben Bänder, diese Flaggen der Kapitulation, flatterten immer noch an allen Autos, und Cassandra Clark war wieder einmal verschwunden.

Cassandra
Noch eine Erzählung von Baronin Frostbeule
    Es gibt einen Trick, um eine Sache zu tun, die man nicht ausstehen kann ... Er besteht darin, sagt Mrs. Clark, etwas zu finden, dass man noch viel weniger ausstehen kann.
    Wenn man eine noch größere Aufgabe zu fürchten hat, werden die kleineren zu Spaziergängen. Das ist auch ein Grund dafür, warum man einen Teufel parat haben sollte. Dadurch werden die kleineren Dämonen ... erträglicher. Eine weitere Clarksche Erweiterung der Theorien von Mr. Whittier.
    Wir lieben Dramatik. Wir lieben Konflikte. Wir brauchen einen Teufel, und wenn keiner da ist, machen wir uns einen.
    Nichts davon ist schlecht. Die Menschen sind nun einmal so. Fische müssen schwimmen, Vögel müssen fliegen.
    Als ihre Tochter zum zweiten Mal verschwunden war, tränkte Mrs. Clark einen Wattebausch mit

Weitere Kostenlose Bücher