Die Kolonie
Und zunehmend verwirrt. Man nimmt die Welt um sich her nicht mehr wahr. Man hört auf, sich zu waschen.
Hat man siebzig bis vierundneunzig Prozent seines Körperfetts und zwanzig Prozent seiner Muskelmasse verbrannt, stirbt man. Bei den meisten Leuten dauert das einundsechzig Tage.
»Meine Tochter Cassandra«, sagt Mrs. Clark, »hat mir nie erzählt, was passiert ist.«
Unser Wissen über den Hungertod, sagt Mrs. Clark, stammt zum großen Teil aus der Beobachtung von Gefangenen in Nordirland im Hungerstreik.
Wenn man verhungert, wird die Haut in manchen Fällen hellblau. Manchmal dunkelbraun. Ein Drittel der Verhungernden schwillt an - aber nur die mit blasser Haut.
Im gotischen Raucherzimmer hat Sankt Prolaps bereits vierzig Striche für vierzig Tage an die Wand gemacht. Vierzig Striche mit seinem Kugelschreiber.
Die Tantiemen unserer Geschichte, dem wahren Epos von unserem tapferen Überleben unter überaus grausamer Folter, tja, die Tantiemen werden nur noch durch dreizehn geteilt werden müssen. Denn Miss America ist uns verblutet.
Die meisten von uns haben den Versuch aufgegeben, den Heizkessel wieder unbrauchbar zu machen, nachdem das Gespenst ihn repariert hat. Unsere Kleider waschen wir aber immer noch nicht. An manchen Tagen liegen wir vom Hellwerden bis zum Dunkelwerden in unseren Garderoben hinter der Bühne auf dem Bett. Und jeder erzählt unsere Geschichte allein.
Wenn wir die Kraft aufbringen könnten, würden wir uns beim Killerkoch vielleicht ein Messer ausborgen und uns die Haare vom Schädel schneiden. Eine weitere Demütigung, die Mr. Whittier uns angetan hat. Noch eine Möglichkeit, unser Nachher-Bild schrecklicher als die Vorher-Bilder werden zu lassen, die jetzt schon garantiert an Telefonmasten und auf Milchkartons überall im Land zu sehen sind.
Reverend Gottlos bricht einem Stuhl ein Bein heraus und rammt sich das Holz in den Arsch, damit die Polizei später ein paar Splitter finden kann. Eine schöne Idee, die wir Mrs. Clarks Tochter Cassandra zu verdanken haben.
Als es dunkel ist, hören wir Schritte. Türen öffnen sich knarrend. Gespensterschritte tappen. Mr. Whittier. Lady Tramp. Genossin Snarky und Miss America.
Seit dem, was das Gespenst dem Herzog der Vandalen angetan hat, verschließen wir alle nach dem Dunkelwerden unsere Türen. Zur Sicherheit bewegen wir uns nur noch in Zweier- oder Dreiergruppen, jeder Zeuge mit einem anderen Zeugen. Jeder ist mit einem Messer des Killerkochs bewaffnet.
Nachdem sie wieder zurückgekommen war, erzählt Mrs. Clark, hat ihre Tochter nie mehr groß zugenommen. Cassandras Fingernägel wuchsen nach, aber sie lackierte sie nicht mehr. Ihr Haar wuchs nach, aber Cassandra wusch und kämmte es nur, sonst nichts, keine Lockenwickler, keine kunstvollen Frisuren, keine Tönungen. Ihre fehlenden Zähne wuchsen natürlich nicht wieder nach.
Sie hatte Konfektionsgröße Null. Keine Hüften. Keine Brust. Nur Knie und Schultern und Todeslager-Wangenknochen. Cassandra hätte alles tragen können, trug aber tagein, tagaus immer nur dieselben zwei, drei langen Gewänder. Keinen Schmuck. Kein Make-up. Sie war so nahe am Nichtvorhandensein, dass schon ein kleines Stück verdorbenen Fleisches zum Mittagessen sie umgebracht hätte. Schon eine Hand voll Schlaftabletten in ihrem Haferschleim. Wenn sie denn was gegessen hätte.
Aber selbstverständlich ging Mrs. Clark mit ihr zum Zahnarzt. Bezahlte viel Geld für eine gute Teilprothese. Erbot sich auch, Implantate zu bezahlen. Für die Zähne. Die welken Brüste. Sie recherchierte ausgiebig zum Thema Magersucht.
Mrs. Clark sagte ihr, und das war glatt gelogen, sie sehe schön aus, so schlank. Cassandra war nie lange genug draußen, um eine andere Hautfarbe als Hellblau anzunehmen.
Nein, Cassandra ging bloß zur Schule, wo niemand mit ihr sprach. Alle sprachen über sie, und die Geschichten ihrer Martern wurden mit jedem Schuljahr grauenhafter. Auch die Lehrer ließen ihrer schrecklichen Phantasie freien Lauf. Die Nachbarn hielten Mrs. Clark auf der Straße an, tätschelten ihre Hand und sagten, wie sehr sie alle mit ihr fühlten. Als sei Cassandra als Leiche wieder aufgefunden worden.
Die Leute, die sich an den Suchaktionen beteiligt hatten, die sie mit Polizeihunden gesucht hatten, sie alle hörten auf, sie nach Einzelheiten auszufragen. Sie konnten Mrs. Clarks ewige Antwort nicht mehr hören: »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht...«
Im ersten Jahr nach der Rückkehr auf die
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