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Die Kolonie

Die Kolonie

Titel: Die Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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ganz dunkel geworden ist. Die Heizung springt an, stöhnt leise, und die Leute blicken auf. Sie können nur ihr eigenes Spiegelbild im Fenster sehen, sonst nichts. Ihr eigenes Gesicht, ohne es zu erkennen. Was da zu ihnen hereinschaut, ist eine bleiche Maske mit dunklen Löchern darin. Der Mund steht ihnen offen, ein großes dunkles Loch. Ihre Augen zwei schwarze starrende Löcher in der Nacht.
    Die draußen parkenden Autos scheinen hundert kalte Meilen entfernt. Selbst der Parkplatz scheint zu weit entfernt, als dass man in dieser Finsternis dort hingelangen könnte.
    Als sie Olson Read gefunden hatte, war nur noch sein Gesicht unversehrt, sein Hals und sein Kopf, diese letzten zehn Prozent von ihm. Unversehrt und geradezu schön, verglichen mit dem gekochten, in Fetzen abfallenden Rest seines Körpers.
    Er kreischte immer noch. Als ob die Sterne sich darum scheren würden. Dieses Etwas, das von Olson übrig war, schleppte sich am White River entlang, taumelte schwankend auf wackligen Knien und fiel dabei auseinander.
    Teile von Olson waren schon weg. Das Fleisch unterhalb der Knie, gekocht und an den scharfen Eiskanten abgerissen. Erst die Haut und dann die Knochen, das Blut in der Hitze gestockt, so dass er bloß eine Spur seines eigenen Fetts hinter sich herzieht. Und jeder Schritt schmilzt ein tiefes Loch in den Schnee.
    Der Junge aus Pinson City, Wyoming, der seinen Hund retten wollte. Die Leute erzählen, als man ihn herauszog, zerfielen seine Arme in Stücke, ein Gelenk nach dem anderen, aber er habe noch gelebt. Die Kopfhaut schälte sich von seinem weißen Schädel, aber er war noch bei Sinnen.
    Auf dem siedenden Wasser zischte und spuckte das gelöste Körperfett des Jungen in allen Regenbogenfarben, Fettaugen schwammen schillernd auf der Oberfläche.
    Der Hund lief zu einem hundeförmigen Pelzmantel ein, die Knochen sanken blankgekocht dem geothermischen Mittelpunkt der Erde zu. Die letzten Worte des Jungen waren: »Bockmist. Ich schaff s nicht. Oder?«
    In so einem Zustand fand Miss Leroy in dieser Nacht Olson Read. Nur schlimmer.
    Der Schnee hinter ihm, der frische Pulverschnee war von Geifer durchlöchert.
    Um sein Geschrei herum, links und rechts und hinter ihm, sah Miss Leroy ein Gewusel gelber Augen. Zahllose kleine Löcher im Schnee, die zu Eis gewordenen Spuren von Kojoten, von Wölfen. Die länglichen Schädel von wilden Hunden, hinter ihrem eigenen weißen Atem herhechelnd, die schwarzen Lefzen gefletscht. Die spitzen Zähne in die Reste von Olsons weißer Hose verbissen, deren Fetzen noch dampften von dem, was darunter verkocht war.
    Plötzlich stieben die gelben Augen auseinander, und es ist nur noch da, was von Olson noch da ist. Schnee, hochgeschleudert von Hinterläufen, hängt glitzernd in der Luft.
    Die beiden allein in einer warmen Wolke Speckgeruchs. Olson, vor Hitze pulsierend, versank neben ihr wie eine dicke Ofenkartoffel im Schnee. Seine Haut war jetzt knusprig, runzlig und rau wie ein Brathähnchen, aber nicht mehr mit dem Fleisch darunter verbunden, mit den Muskeln, die gekocht um die heißen Knochen zuckten.
    Seine Hände krampften sich um Miss Leroys Finger, und als sie sich aus der Umklammerung zu lösen versuchte, riss ihm die Haut. Seine gekochten Hände blieben kleben, wie Lippen bei Frost an einer kalten Stange auf dem Spielplatz kleben bleiben. Als sie sich von ihm zu lösen versuchte, rissen seine bis auf die Knochen gebackenen, bludösen Finger auf, und er krallte sich kreischend noch fester bei ihr an.
    Er war zu schwer, tief in den Schnee eingesunken. Sie bekam ihn nicht weg.
    Sie saß fest, der Eingang zum Speiseraum nur zwanzig Fußabdrücke entfernt. Die Tür stand noch offen, Miss Leroy sah die gedeckten Tische. Sie sah den großen gemauerten Kamin, in dem dicke Scheite brannten. Sie konnte das Feuer sehen, aber nicht spüren - dafür war es zu weit weg. Sie zerrte an Olson mit aller Kraft, wollte ihn ins Haus schleifen, aber der Schnee war zu tief.
    Schließlich gab sie auf und wartete, hoffte, dass er starb. Betete zu Gott, er möge Olson töten, ehe sie selbst erfroren war. Die gelben Augen der Wölfe belauerten sie vom dunklen Rand des Waldes. Die Umrisse der Kiefern ragten in den nächtlichen Himmel. Darüber die ineinander fließenden Sterne.
    In dieser Nacht erzählte Olson Read ihr eine Geschichte. Seine eigene private Horrorgeschichte.
    Das sind die Geschichten, die wir noch auf den Lippen haben, wenn wir sterben. Die Geschichten, die wir nur Fremden

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