Die Kolonie

der White River sein Garten Eden, der Beweis dafür, dass Gott schöne Dinge schuf.
    Olson beobachtete die heißen Quellen, die Geysire und die dampfenden Schlammlöcher, denn wie jeder Christ liebte er die Vorstellung von der Hölle. Jedes Paradies musste seine Schlange haben. Er sah dem kochenden Wasser zu, wie es dampfte und spuckte, und er tat das mit dem gleichen Blick, mit dem er aus der Durchreiche die Kellnerinnen im Speiseraum beobachtete.
    An seinem freien Tag streifte er mit der Bibel durch die Wälder, durch die Wolken und Schwefelschwaden. Er sang »Amazing Grace« oder »Näher mein Gott zu dir«, aber nur die Strophen fünf oder sechs, so seltsame und unbekannte Texte, dass man meinen konnte, er habe sie sich ausgedacht. Olson schritt über den Sinter dahin, diese dünne Kalkkruste, die sich ähnlich bildet wie Eis auf dem Wasser, und gelegentlich verließ er den Plankenweg und kniete sich an den steilen Rand einer spuckenden, stinkenden Quelle. Und betete laut für Miss Leroy und den Pagen. Betete zu seinem Gott, unserem allmächtigen Herrn, der Himmel und Erde erschaffen hat. Er betete für die unsterbliche Seele jedes Hilfskellners. Er zählte die Sünden jedes einzelnen Zimmermädchens auf. Mit schwellender Stimme betete er für Nola, die ihren Rock zu kurz trug und mit jedem Gast, der bereit war, sich von zwanzig Dollar zu trennen, die Sünde des Oralsex beging. Andere Touristen, ganze Familien, standen hinter ihm auf dem sicheren Plankenweg und hörten zu, wie Olson um Gnade für die Speisekellner Evan und Leo flehte, die allnächtlich in sodomitischer Lüsternheit übereinander herfielen. Olson heulte und schrie wegen Dewey und Buddy, die beim Geschirrspülen Leim aus einer braunen Papiertüte schnüffelten.
    Dort, vor den Toren seiner Hölle, schrie Olson Bäume und Himmel an. Er hatte Gott Bericht zu erstatten, und so zog er nach Feierabend los und rief den Sternen die Sünden seiner Mitmenschen zu, den Sternen, die so hell am Nachthimmel standen, dass sie miteinander verschmolzen. Er flehte Gott um Gnade für sie alle an.
    Nein, niemand konnte Olson Read so richtig leiden. Plaudertaschen sind unbeliebt bei Jung und Alt.
    Alle kannten die Geschichten von der Frau in Olivenöl. Von dem Jungen, der mit seinem Hund zu Suppe gekocht worden war. Vor allem Olson lauschte diesen Schilderungen mit leuchtenden Augen. Denn das galt ihm als Beweis für alles, was ihm teuer war. Es zeugte von der Wahrheit. Dass man seine Taten vor Gott nicht verbergen kann. Und auch nicht wieder gutmachen kann. Wir würden lebendig in der Hölle schmoren und. solche Pein erleiden, dass uns der Tod wie eine Erlösung vorkäme. Aber wir würden in alle Ewigkeit leiden müssen, und niemand auf der Welt würde mit uns tauschen wollen.
    Hier unterbrach sich Miss Leroy abermals. Zündete sich die nächste Zigarette an. Zapfte den Gästen ein neues Bier.
    Manche Geschichten, sagte sie, erzählt man, und je öfter man sie erzählt, desto mehr nutzen sie sich ab. Nach und nach verpufft die Dramatik, und mit jeder neuen Version wirken sie alberner und platter. Sie haben sich erledigt. Andere Geschichten erledigen uns. Je öfter man sie erzählt, desto stärker werden sie. Diese Art von Geschichten erinnert einen daran, wie dumm man gewesen ist. Immer noch ist. Und immer sein wird.
    Manche Geschichten, sagt Miss Leroy, sind wie Selbstmord, wenn man sie erzählt.
    Hier nun gibt sie sich alle Mühe, die Geschichte langweilig zu machen; erklärt, dass siebzig Grad heißes Wasser binnen einer Sekunde Verbrennungen dritten Grades herbeiführt.
    Die Thermen der White-River-Verwerfung sind Austrittsöffnungen vulkanisch erhitzten Wassers, Quellen, deren natürliche Einfassung aus kristallisierten Mineralien besteht. Die Durchschnittstemperatur der Thermalquellen am White River beträgt sechsundneunzig Grad Celsius.
    Eine Sekunde in diesem heißen Wasser, und wenn du dir die Socken ausziehst, ziehst du dir die Füße gleich mit aus. Die gekochte Haut deiner Hände bleibt an allem kleben, was du anfasst, und hängt dann da wie ein Lederhandschuh.
    Der Körper versucht, sich zu retten, indem er Flüssigkeit an die Brandstelle schickt, um die Hitze abzubauen. Man schwitzt, man dehydriert schneller als beim schlimmsten Durchfall. Dieser massive Flüssigkeitsverlust hat ein Absinken des Blutdrucks zur Folge. Man gerät in einen Schockzustand. Die lebenswichtigen Organe stellen in rascher Folge ihre Dienste ein.
    Es gibt Verbrennungen ersten,