Die Kolonie
zweiten, dritten und vierten Grades. Es gibt oberflächliche, schwere und kritische Verbrennungen. Bei oberflächlichen Verbrennungen, also denen ersten Grades, kommt es zu Hautrötung, aber nicht zu Blasenbildung. Man denke an Sonnenbrand und die darauffolgende Ablösung abgestorbenen Gewebes - die Haut, die sich in Fetzen abschält. Bei kritischen Verbrennungen, also denen dritten Grades, ist die Haut trocken und weiß wie Leder; Fingerknöchel sehen so aus, wenn man einen Kuchen aus dem Backofen nimmt und dabei an die Heizspirale stößt. Verbrennungen vierten Grades gehen weit unter die Haut.
Zur Bestimmung des Ausmaßes einer Verbrennung verwendet der Arzt die »Neuner-Regel«. Dem Kopf werden neun Prozent der gesamten Körperoberfläche zugeordnet. Den Armen jeweils neun Prozent. Jedem Bein achtzehn Prozent. Vorderer und hinterer Rumpfseite jeweils achtzehn Prozent. Dazu 1 Prozent für den Hals, und die hundert Prozent sind voll.
Ein einziger Schluck von so heißem Wasser führt zu einem schweren Kehlkopfödem und Asphyxie. Die Kehle schwillt zu, und man erstickt.
Wenn Miss Leroy das erzählt, klingt es wie Lyrik. Skelettierung. Ekdysis. Hypokaliämie. Worte, die die in der Bar Anwesenden auf sicheres abstraktes Gelände führen, weit, weit weg. Eine nette kleine Unterbrechung ihrer Geschichte vor dem entsetzlichen Ende.
Man kann sein ganzes Leben damit verbringen, zwischen sich selbst und der Realität eine Mauer aus Tatsachen zu errichten.
An einem Februarabend vor vielen Jahren waren Miss Leroy und Olson, der Koch, einmal ganz allein in der Lodge. Tagsüber war ein Meter Neuschnee gefallen, und die Räumfahrzeuge waren noch nicht durchgekommen.
Wie jeden Abend nimmt Olson Read seine Bibel in eine fette Hand und stapft in den Schnee hinaus. Damals gab es hier noch Kojoten, die einem Angst machen konnten. Pumas und Luchse. Olson, weiß vor dem weißen Schnee, stapft davon und singt eine Meile lang »Amazing Grace«, ohne eine Strophe zu wiederholen.
Die zwei Fahrspuren des Highway 17 sind unterm Schnee begraben. Die grüne Neonreklame für die Lodge leuchtet an einem frei stehenden Stahlmast, um dessen Betonverankerung ein niedriger Backsteinsockel gemauert ist. Die Außenwelt ist wie jede Nacht ein vom Mond beschienenes Blauschwarz, der Wald lediglich eine dunkle Silhouette aus Kiefernwipfeln.
Jung und schlank wie sie war, kam es Miss Leroy gar nicht in den Sinn, sich wegen Olson Read Gedanken zu machen. Wie lange er weg war, merkte sie erst, als draußen die Wölfe anfingen zu heulen. Sie betrachtete gerade ihre schön weißen und ebenmäßigen Zähne in der blanken Klinge eines Buttermessers. Olsons abendliches Gebrüll war sie seit langem gewohnt. Seine Stimme aus dem Wald, wie er ihren Namen schrie und dann eine tatsächliche oder eingebildete Sünde folgen ließ. Sie rauche Zigaretten, schrie Olson. Sie tanze Schwof. Olson flehte Gott um Gnade für sie an.
Wenn sie die Geschichte jetzt erzählt, müssen die Zuhörer ihr den Rest förmlich aus der Nase ziehen. Dass sie hier festsitzt. Ihre Seele im Fegefeuer. Kein Mensch kommt in die Lodge mit dem Vorsatz, hier bis an sein Lebensende zu bleiben. Teufel, sagt Miss Leroy, manchmal erlebt man Dinge, die schlimmer sind als sterben.
Manche Dinge sind schlimmer als ein Autounfall, wenn man irgendwo in der Wildnis landet. Schlimmer als ein Achsenbruch. Wenn man jung ist. Und für den Rest seines Lebens in einer Bar am Ende der Welt arbeiten muss.
Damals, nicht halb so alt wie heute, hört Miss Leroy die Wölfe heulen. Die Kojoten jaulen. Sie hört Olson kreischen, nicht ihren Namen oder irgendwelche Sünden, sondern einfach nur kreischen. Sie geht zur Nebentür des Speiseraums. Tritt ins Freie, in den Schnee, dreht den Kopf zur Seite und horcht.
Sie riecht Olson, bevor sie ihn sieht. Frühstücksgeruch hängt in der kalten Luft, der Geruch von Speck in der Pfanne. Von Speck oder Dosenfleisch, dicke Scheiben, die zischend im eigenen Fett brutzeln.
An diesem Punkt ihrer Geschichte springt jedesmal die elektrische Wandheizung an. Kälter als in diesem Moment kann es in der Bar nicht werden. Miss Leroy kennt diesen Moment, in dem sich die Härchen auf ihrer Oberlippe aufrichten. Sie weiß, wann sie kurz innezuhalten hat. Sie lässt die Stille wirken, sekundenlang, und dann - wumm - strömt wie fernes Rauschen warme Luft aus der Heizung. Der Ventilator ächzt leise auf und wird dann plötzlich sehr laut. Miss Leroy hat dafür gesorgt, dass es inzwischen
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