Die Kolonie
Mineralöl und versiegelte sämtliche Fugen im Badezimmer. Dafür brauchte sie fast ein ganzes Wochenende.
Mit einem Staubtuch säuberte sie jede einzelne Lamelle aller Rouleaus im Haus.
All diese langweiligen Arbeiten wurden fürs Erste erträglich, weil sie dabei aufs Klingeln des Telefons warten konnte. Vielleicht rief die Polizei an und teilte ihr mit, man habe Cassandra tot aufgefunden. Oder, noch schlimmer, lebendig.
Diese Roboterfrau, die den ganzen Tag auf dem Sofa saß und die Blauhäher zeichnete, die vor ihrem Fenster krächzten. Oder diesem verdammten Goldfisch zusah, der immer nur in seinem Glas im Kreis herumschwamm.
Diese ... Fremde, die keine Zehen und Finger mehr hatte.
Was Mrs. Clark nicht wusste: Die Polizei hatte Cassandra tatsächlich gefunden. Ein junger Pfadfinder kam aus dem Wald und sagte erst mal gar nichts. Das Geheimnis, seine Entdeckung, verschlug ihm die Sprache. Er war im Wald gewesen, einem Bach durch eine Schlucht hinauf gefolgt, über Felsen geklettert, an denen sich das Wasser staute, bevor es überlief, um weiter unten in ein natürliches Becken zu stürzen; und hier hatte dieser Pfadfinder nach Forellen Ausschau gehalten. Grünes Moos überzog in dicken Matten die Felsen, Bäume verschränkten ihre Äste und hielten sich gegenseitig fest. Und hier, in diesem Schattenreich, lag Cassandra Clark. Sie lag auf der Seite, die Hände wie im Schlaf unter ihrem dünnen, blassen Gesicht gefaltet. Cassandra, nackt auf diesem Bett aus dickem weichen Moos, um sie herum ein Vorhang aus Hagedornblättern.
Schließlich erzählt der Pfadfinder einem Erwachsenen davon, und der benachrichtigt den Sheriff. Noch vor Einbruch der Dunkelheit steigt eine Gruppe Polizisten, am Bach entlang, die Schlucht hinauf. Als es dunkel wird, gehen sie nach Hause, und sie alle erwähnen mit keinem Wort, was sie an diesem Tag bei der Arbeit gesehen haben.
Keiner von ihnen ruft Mrs. Clark an. Während sie wartet, wendet sie sämtliche Matratzen im Haus. Sie putzt die Fenster im ersten Stock. Sie wischt die Fußbodenleisten. Jede Arbeit, die sie sonst kaum ausstehen kann, ist nichts im Vergleich dazu, untätig warten zu müssen. Sie reinigt den Kamin, und immer ist das Telefon griffbereit, damit sie gleich beim ersten Klingeln abnehmen kann.
Nach diesem zweiten Verschwinden band niemand mehr gelbe Bänder an Telefonmasten. Niemand ging von Tür zu Tür. Es wurden keine Gebetskerzen angezündet. Keine Irren riefen an.
Nicht mal die Leute vom Fernsehen kamen vorbei, als Mrs. Clark ihr Haus von oben bis unten putzte.
Jedenfalls musste Cassandra noch eine Nacht in dieser Schlucht warten, an einem Bach, an einem felsigen Hang, weit abseits von den Wegen der Waldarbeiter. Keine Fußspuren waren zu sehen, und ihre nackten Füße waren so sauber, als sei sie dorthin getragen worden.
Inzwischen war es zu spät, den Kaliumgehalt in ihrem Humor aguosus zu bestimmen. Ihre Arme ließen sich beugen, also war sie schon länger als zwei Tage tot. Die Totenstarre war eingetreten und hatte sich wieder gelöst.
Die Polizisten, die als Erste dort gewesen waren, hatten in den Hagedornzweigen ein Mikrofon aufgehängt; Wie nach der Bestattung eines Mordopfers ein Mikrofon am Grab angebracht wird. Weil der Mörder zurückkommen muss. Weil der Mörder reden muss, seine Geschichte erzählen muss, bis sie sich erledigt hat.
Andere Geschichten erledigen uns.
Dem einzigen Publikum, vor dem ein Mörder das Reden riskieren kann: seinem Opfer.
Cassandra auf ihrem Moosbett. Das Mikrofon über ihr in den Zweigen, angeschlossen an einen Kassettenrekorder und einen Sender; das Empfangsteil in der Hand eines Hilfssheriffs, der auf der anderen Seite der Schlucht zwischen den Felsen kauert. Weit genug entfernt, dass er Moskitos totschlagen kann, ohne sich zu verraten. Kopfhörer auf den Ohren. Er sitzt auf dem Boden, wo es von Ameisen wimmelt. Und horcht.
Im Kopfhörer singen Vögel. Weht der Wind.
Es ist erstaunlich, wie viele Mörder zurückkommen, um Abschied zu nehmen. Die beiden, der Mörder und sein Opfer, haben gemeinsam etwas erlebt, und der Mörder kehrt zurück, setzt sich ans Grab und erzählt von alten Zeiten.
Jeder braucht ein Publikum.
Im Kopfhörer des Hilfssheriffs summen Fliegen, die ihre Eier am feuchten Rand von Cassandras Lidern ablegen, an ihren leicht geöffneten blauen Lippen. Die Fliegen legen ihre Eier in Cassandras Nase und Anus.
Zu Hause hat Mrs. Clark den Eisschrank von der Wand gewuchtet und fährt mit dem
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