Die Kolonie
Gefahr war. So sind jetzt nur noch acht von uns übrig –
von den sechzig, die vor einigen Monaten mit uns anfingen.
Ich habe mit Ruth die Reise nach Eiland Eins besprochen. Ich
habe ihr auf die Schnelle gesagt, daß wir heiraten sollten,
damit wir beide nach Eiland Eins gehen können. Und sie hat
zugesagt! So gingen wir in die Kapelle auf Stufe Eins (volle
Erdenschwere) und ließen uns in Anwesenheit von zwei
Studienkollegen als Zeugen trauen, während meine Eltern
über eine Fernverbindung zusahen. Leider konnten wir nicht zu
Ruths Eltern durchkommen, aber meine Eltern haben versprochen, ihnen
eine Videobandaufzeichnung zu schicken.
Unsere Hochzeitsnacht verbrachten wir auf Stufe sechs (fast
Schwerelosigkeit – wow!). Heute werden wir nach Eiland Eins
starten, um unser gemeinsames Leben als Mann und Frau zu
beginnen.
- Das Tagebuch des William Palmquist
32. Kapitel
Hamud ging ungeduldig auf dem weißgestrichenen Dach auf und
ab. Er trug jene Kleider, die ihm die lokalen RUV-Aktivisten gegeben
hatten: knielange Hosen und ein lockeres Hemd, das mit einem
willkürlichen Muster aus Streifen und Zahlen übersät
war, eine Imitation der Freizeitkleidung, die bei der Jugend Amerikas
gerade in Mode war. Er kam sich zwar lächerlich vor, doch er
betrachtete sein Kostüm als notwendige Tarnung.
Oben auf dem Hügel, der den Fluß überragte, stand
das Forschungslabor, und niemand wußte, daß es jetzt ein
RUV-Hauptquartier war. Die Garrison Enterprises hatte das Labor
offiziell geschlossen und den Mitarbeiterstab auf unbestimmte Zeit
bei voller Bezahlung beurlaubt. Die Beschäftigten hielten sich
zu Hause auf, hatten sich in ihren Wohnungen in den Vorstädten
verbarrikadiert, bereit, ihre Familien in Nyack, Tarrytown und
Peekskill zu verteidigen. Sie saßen vor den Bildschirmen,
Gewehr im Schoß und sahen mit Entsetzen die brennenden,
sterbenden Städte. Und sie dankten Gott und den Garrison
Enterprises, daß sie weit weg von der Innenstadt wohnten. Aber
war es weit genug? stellte sich jeder von ihnen die bange Frage.
Es war ein grauer, wolkenverhangener Tag, und der Wind unten am
Fluß wehte feucht und kühl. Hamud erschauerte,
während er all seine Sinne anstrengte, um das Auftauchen des
erwarteten Bootes zu beschwören wie ein Fakir, der eine Kobra
aus ihrem Strohkorb hervorlockt.
Er wußte, daß Bahjat an Bord war. Die Funkmeldung, die
er in der Nacht erhalten hatte, war zwar verschlüsselt gewesen,
aber ziemlich eindeutig. Scheherazade war zu ihm unterwegs, in
Begleitung von Leo, dem Anführer von New York. Und sie brachte
ihm ein Geschenk, einen Schatz, einen Gefangenen mit – den Mann
von Eiland Eins.
Das war ein Juwel von unschätzbarem Wert, dieser Gefangene
aus der Weltraumkolonie. Er wußte alles über Eiland Eins:
wie es funktionierte, wie es um die Sicherheit bestellt war und wo
die schwachen Punkte lagen. Eine Fundgrube von Informationen. Und das
Forschungslabor war ein idealer Platz, um ihm all diese Informationen
zu entlocken. Und nachher? Hamud zuckte die Achseln. Gefangene, die
wertlos geworden waren, pflegten gewöhnlich nicht mehr lange zu
leben.
Evelyn starrte ebenfalls auf den Fluß und wartete auf die
Ankunft des Bootes.
Sie befand sich in einem der Laborbüros, stand am Fenster und
schaute hinaus auf den grauen Himmel und auf den noch graueren
Fluß. Selbst die Nadelbäume am anderen Ufer des Hudson
sahen grau und leblos aus unter den tief hängenden Wolken.
Was ist nur mit mir los? fragte sich Evelyn. Ihre
Hände waren verkrampft, zu schwitzenden Fäusten geballt.
Ihr ganzes Innenleben schien zu flattern und zu beben. Tief in ihr
war ein Gefühl, das ihr sagte, daß etwas Schlimmes, etwas
Entsetzliches passieren würde.
Sie beobachtete Hamud, der wie ein aufgeregter kleiner Junge am
Dock auf und ab lief. Er hatte sie kaum beachtet, seitdem sie am
Abend zuvor im Labor eingetroffen waren. Manchmal stur und manchmal
sauer war er voller Erwartung, seitdem die Funkmeldung eingetroffen
war, daß Scheherazade hierher unterwegs sei.
Er muß irrsinnig in sie verliebt sein, stellte Evelyn
fest.
Nun gut. Sie war froh, daß er Scheherazade begehrte und
nicht sie. Und David war ebenfalls im Boot. Die Warnung, das
Vorgefühl von Gefahr und Tod, das über ihrem Kopf schwebte,
hatte etwas mit David zu tun. Irgendwie wünschte sie, er
wäre ganz woanders, egal wo, wenn er nur vor Hamud sicher
war.
Das Büro, in dem sie sich befand, war sehr eng. Es standen
nur ein Schreibtisch, ein
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