Die Kolonie
David
wartete darauf, daß sie etwas sagte, daß sie weitere
Fragen stellte. Aber es kam nichts. Schließlich fragte er:
»Stört dich das? Ich meine…«
Sie streichelte seine Wange. »Nein, du dummer Junge, das
stört mich überhaupt nicht. Ich habe mich nur gefragt…
warum haben sie dir das angetan?«
Er erzählte ihr alles Stück für Stück. Davids
Mutter gehörte zum technischen Stab, der am Bau von Eiland Eins
beteiligt war. Sie wurde bei einem Unfall getötet, ihr Brustkorb
wurde durch einen schwerelosen, aber massiven Stahlbrocken
eingedrückt, der sich aus der Verankerung gelöst hatte,
während sie damit beschäftigt war, das Stahlteil an der
Außenhülle der Kolonie zum Einbauort zu dirigieren.
Bevor sie starb, verriet sie den Ärzten noch im Todeskampf,
daß sie bereits im zweiten Monat war. »Retten Sie mein
Kind«, bettelte sie. Doch sie hatte nicht mehr die Kraft zu
verraten, wer der Vater des Kindes war.
Zu jener Zeit hatte die biologische Gruppe in einer der
Spezialabteilungen der Kolonie ihre Arbeit aufgenommen und
befaßte sich mit der rekombinierenden DNA-Forschung, die auf
der Erde durch gesetzliche Vorschriften und durch den stupiden
Pöbel bekämpft wurde, das die Laboratorien im Namen
Frankensteins stürmte. Damals war die Kolonie noch weit von der
Vollendung entfernt, doch der Rechtsausschuß der Biologen
entschied sich für eine Gebärmutter aus Kunststoff für
den Fötus und ließ sich von der Erde all jene
Einrichtungen und Geräte kommen, die für den Fortbestand
des keimenden Lebens erforderlich waren.
Dr. Cyrus Cobb, dieser eiskalte Anthropologe, der erst
kürzlich zum Leiter der Kolonie ernannt worden war – und
das zur allgemeinen Verwunderung mit Ausnahme des Gremiums und seiner
selbst –, durchforstete sämtliche Labors, die auch nur im
entferntesten vom Gremium kontrolliert wurden, um all die
Ausrüstung und all die Spezialisten hereinzubekommen, die
erforderlich waren, um den Fötus am Leben zu erhalten. Das
namenlose, unerwünschte, ungeborene Kind wurde zum
Lieblingsprojekt der biomedizinischen Experten.
Die Biochemiker sorgten für seine Ernährung und für
seine Aufzucht, die Molekulargenetiker testeten seine Genen und
verbesserten sie über alle Maßen hinaus, die sich kein
gewöhnlicher Sterblicher auch nur träumen ließ. Als
das Baby ›geboren‹ wurde, war es so gesund und genetisch so
perfekt, wie es sich die moderne Wissenschaft nur leisten konnte.
Das alles galt auf der Erde als illegal, zumindest aber als
außerhalb aller Gesetze. Doch auf dem immer noch unfertigen
Eiland Eins galt kein Gesetz außer dem Gesetz des Gremiums, und
dieses Gesetz wurde von Cyrus Cobb in allen seinen Konsequenzen
angewandt, der mit eiserner Hand und stahlhartem Geist regierte. Cobb
sorgte dafür, daß das Baby physisch perfekt wurde und nahm
dann seine Erziehung von Kindesbeinen auf in die Hand.
»Dann hast du also niemals Vater und Mutter gekannt«,
sagte Evelyn leise, und ihr Atem streifte Davids Ohr.
Er zuckte die Achseln unter der Decke. »Natürlich habe
ich meine Mutter nie gekannt. Dr. Cobb war mir wie ein Vater,
daß man sich keinen besseren wünschen
könnte.«
»Ich wette…«
»Nein, das war er wirklich. Er ist ein patenter alter Herr.
Und manchmal… manchmal frage ich mich, ob er nicht wirklich mein
Vater ist, biologisch natürlich.«
»Das wäre nicht auszudenken!«
»Für dich nicht. Für mich erscheint das alles
normal.«
»Aber du hast nie eine Familie gehabt, Brüder,
Schwestern oder…«
»Keine Familiengeschichten, keine Rivalität. Und mir
stand der ganze wissenschaftliche Stab der Kolonie zur
Verfügung, um mich zu verhätscheln. Bis zum heutigen Tag
bin ich für sie so was wie ein Maskottchen oder ein
Vorzugsschüler.«
»Du meinst gewiß, ihr Eigentum.«
»Ich bin nicht ihr Eigentum.«
»Aber sie lassen nicht zu, daß du die Kolonie
verläßt. Sie lassen dich nicht auf die Erde.«
David überlegte einen Augenblick lang und dachte an all die
Gründe, die ihm Cobb genannt hatte. Er hat mich nicht grausam
behandelt, er würde es auch niemals tun!
»Schau«, sagte er, »ich bin immer noch ein
Stück wissenschaftlicher Erkenntnis, ein lebendes Beispiel. Sie
beobachten mich immer noch, um zu erfahren, welche Ergebnisse ihre
Arbeit gezeitigt hat. Sie müssen mich auch als Erwachsenen
beobachten, um herauszufinden…«
»Du bist erwachsen«, sagte Evelyn, streichelte
die Innenseite seines Oberschenkels und umfaßte sein Glied.
»Ich könnte ihnen
Weitere Kostenlose Bücher