Die Kolonie
Kontrollzentrum, das genaue Abbild dessen, das
ihr Duvic gezeigt hatte. Doch durch das stark getönte Fenster
konnte sie erkennen, daß dieser Raum still und verlassen war
wie ein Grab.
Die Rolltreppe, die zur U-Bahn hinunterführte, war leer und
außer Betrieb. Ein langer Abstieg stand ihr bevor. Doch als sie
den Fuß auf die erste Stufe setzte, kam die Rolltreppe in
Bewegung. Evelyn verlor fast das Gleichgewicht, doch sie hielt sich
mit beiden Händen an der Handleiste fest und ließ sich von
der Rolltreppe auf den Bahnsteig befördern. Da stand nur ein
einziger Wagen, der ebenfalls einen finsteren und ausgestorbenen
Eindruck erweckte. Doch als sie durch das Drehkreuz ging, hob der
Wagen ab, und der Elektromotor begann zu summen. Die Türen
glitten zurück. Komm in meine Liebeslaube, sagte die Spinne
zur Fliege, dachte Evelyn. Trotzdem stieg sie ein.
Der Zug startete automatisch. Evelyn stand an der Tür, und
der Zug – dessen Automatik einen Fahrgast meldete, der
aussteigen wollte – hielt an der nächsten Haltestelle.
Evelyn stieg aus und fand die Treppe, die nach oben führte. Sie
ging langsam hinauf und hielt alle paar Sekunden an, um auf
irgendwelche Lebenszeichen zu lauschen. Aber es war nichts zu
hören, nicht einmal das Echo ihrer eigenen Schritte.
Das flößte ihr mehr Furcht ein als der Gedanke,
erwischt zu werden.
Schließlich kam sie oben an. Hier sah es nach einem Garten
aus, mit riesigen Büschen und grellen tropischen Blüten,
die ihr die Sicht in alle Richtungen versperrten. Zwischen dem
Buschwerk führte ein gewundener Pfad entlang, und Evelyn folgte
ihm. Über ihr wölbten sich Palmen und tropische Bäume,
die von Kletterpflanzen überwuchert waren. Es war, als
würde sie über einen Dschungelpfad gehen – aber in
völliger Stille. Kein Vogel sang, kein Insekt summte, nicht
einmal eine sanfte Brise in den Baumkronen über ihr war zu
hören. Und keine menschliche Stimme.
Der Pfad führte an einem Kamm entlang, fast jenem Hügel
ähnlich, von dem aus ihr David das Panorama des Hauptzylinders
gezeigt hatte. Mit klopfendem Herzen blieb sie stehen und hielt
Ausschau.
Eine tropische Welt. Urwälder, Hügel, mit mächtigen
tropischen Bäumen bewachsen, Berge in der Ferne, Blumen
überall. Flüsse, Wasserfälle, tiefe Teiche, in der
Mitte ein großer See mit sandigen Buchten.
Weiter oben sah es ähnlich aus. Dieses von Menschenhand
erschaffene tropische Paradies bedeckte die ganze Innenfläche
des Zylinders. Eine riesige Hollywood-Kulisse für einen Film,
der auf einer Südseeinsel spielte. Alles, was noch fehlte, war
ein rauchender Vulkan – und Leben.
Es gab keine Häuser, keine Straßen, kein Anzeichen
für irgendeine menschliche Siedlung.
Evelyn holte ein schlankes, elektronenoptisch verstärktes
Fernglas aus der Tasche. Nichts. Keine Siedlung, keine Brücken,
nicht einmal ein Vogel in der Luft.
Der zweite Zylinder von Eiland Eins, groß genug, um mehr als
eine Million Menschen aufzunehmen, war ein tropisches Paradies. Und
völlig leer.
Der revolutionäre Geist dieses neuen Jahrhunderts hat sich
auf mancherlei Weise manifestiert. Überall in der Welt haben
sich die unterdrückten Massen entschlossen, ihr Schicksal selbst
in die Hand zu nehmen und ihren Unterdrückern die Macht zu
entreißen. Bei den armen Völkern der südlichen
Hemisphäre werden massive zivile Unruhen zum Sturz der
Unterdrücker und zur Bildung neuer Regierungen führen, die
ein Herz für die Not der Unterdrückten haben. In den
reichen Industrieländern des Nordens hat die enttäuschte
Jugend die Fackel der Revolution entzündet, für sich und
für ihre weniger bemittelten Brüder.
Sie nennen sich die RUV, Revolutionäre Untergrundbewegung
des Volkes. Ihre Gegner bezeichnen sie als Terroristen. Doch ihre
Kinder und Kindeskinder, die dank ihrer Taten in Frieden und Freiheit
leben können, werden sie als ihre Befreier verehren. Eine
höhere Anerkennung läßt sich nicht denken.
- Gewidmet dem Colonel Cesar Villanova,
bekannt als El Libertador zum Einmarsch seiner Revolutionsarmee in Buenos Aires
am 30. Mai 2008
6. Kapitel
Als er wieder zu sich kam, war Dennis McCormick fest davon
überzeugt, im Paradies der Moslems gelandet zu sein – oder
zumindest in den Filmkulissen von Tausendundeiner Nacht.
Das Bett, auf dem er lag, war breit und niedrig, mit
Seidentüchern drapiert, die sich leicht in einer warmen Brise
bewegten. Der Raum war mit langen, luxuriösen Sofas und bunten
Kissen verschwenderisch
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