Die Kolonie
an
ihrem Scotch, dann setzte sie das Glas fest auf die Tischplatte.
»David«, sagte sie. »Ich habe nie vorgehabt,
für unbestimmte Zeit in Eiland Eins zu bleiben. Mein Antrag
für einen Daueraufenthalt hier ist ein Schwindel. Ich bin
Zeitungsreporter, und ich bin hierhergekommen, um eine Story
auszugraben, dann auf die Erde zurückzukehren und sie dort zu
verbraten.«
Er spürte, wie er innerlich erstarrte. »Über mich.
Du wolltest meine Geschichte erzählen – das Retortenbaby
ist jetzt ein ausgewachsener Mann.«
Sie nickte langsam, und ihre Lippen preßten sich zu einem
hellen, blutlosen Strich zusammen.
David starrte sie an und versuchte festzustellen, was er innerlich
fühlte. Angst? Wut? – Nichts von alledem. Was er
spürte, war Schmerz, er war verletzt und bitter enttäuscht,
und er schämte sich. Du Narr, du! Und du hast wirklich
gemeint, sie hätte etwas für dich übrig.
»Nun, du hast deine Story bereits in der ersten Nacht
bekommen. Ich hoffe, es freut dich. Du hast alles erfahren, was du
über den Homunculus, den künstlichen Menschen wissen
wolltest, einschließlich seines Sexuallebens. War ich gut? Soll
ich vielleicht für Fotos posieren?«
»David, bitte…!«
»Warum bist du hiergeblieben?« Er spürte, wie das
Eis in ihm unter der Flamme der aufsteigenden Wut zu schmelzen
begann. Aber er war eher wütend auf sich als auf sie, und er
wußte es. »Warum bist du nicht gleich am nächsten Tag
abgereist? Du hattest alles, was dich hierher getrieben hat. Mein
Gott, selbst Dr. Cobb hat es dir leicht gemacht. Er hat dich mit mir
zusammengebracht.«
»Das war Zufall.«
»Natürlich.«
»Cobb hat keine Ahnung, daß ich ein Schnüffler
bin. Der Grund dafür, weshalb ich einen Daueraufenthalt
beantragt habe, liegt darin, daß man keine Reporter in die
Kolonie lassen wollte.«
»Nun, jetzt brauchst du dich hier nicht länger
aufzuhalten«, sagte David, wobei ihm die Worte fast im Halse
stecken blieben. »Du kannst morgen früh gleich die erste
Maschine nehmen.«
»Noch nicht«, sagte sie entschlossen.
Steh auf und hau ab! sagte er zu sich. Geh fort und halt
dich von ihr fern. Geh in die Berge oder nach Hause und pflege deine
Wunden für dich. Mach dich nicht öffentlich zum
Gespött.
Statt dessen fragte er: »Warum nicht gleich?«
»Ich… ich bin nach unserer ersten Nacht nicht
fortgegangen, weil ich zu begreifen begann, daß du eine Person,
daß du ein echter Mensch bist, mit Gefühlen
und…« Sie langte nach dem Whisky, berührte das Glas,
ließ es aber stehen. »Nun gut, ich hatte deinetwegen mit
meinem Gewissen einen Strauß auszufechten, und mein Gewissen
behielt die Oberhand. Das geschieht nicht oft.«
»Was soll das heißen?« fragte David
kriegerisch.
Sie nahm das Glas und tat einen tiefen Schluck. »Das
heißt, daß ich der Meinung bin, ich wäre da einer
weiteren Geschichte auf der Spur. Einer Sache, die dich nicht
betrifft.«
»Und wenn du keine weitere Geschichte ausgegraben
hättest, so hättest du zumindest die meine gehabt, um sie
als Beute mit zur Erde zu nehmen.«
»Aber ich habe eine andere Story gefunden,
David.«
»Tatsächlich?«
»Zylinder B!« Sie beugte sich behend vor. »Das ist
ein blühendes tropisches Paradies, doch da ist kein Mensch! Auch
keine Vögel und Insekten!«
David schüttelte den Kopf. »Aber man braucht Vögel
und Insekten, um einen Urwald zu erhalten. Du hast einfach keine
gesehen.«
»Aber wo bleiben die Menschen? Warum ist alles leer? Was
fängt Cobb mit all dem leeren Raum an? Es ließen sich
leicht eine Million Menschen unterbringen, vielleicht auch zwei!
Unter Umständen sogar mehr.«
»Sie würden das Paradies in Slums verwandeln.«
»Warum ist alles leer?« beharrte Evelyn.
»Ich weiß es nicht.«
»Aber du kannst mir helfen, es herauszufinden.«
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und heftete den Blick
auf sein unberührtes Glas. »Ich glaube zu begreifen. Wenn
ich dir helfe, dieses Geheimnis zu lüften, dann kriegst du eine
Story über Eiland Eins, die größer ist als die
Geschichte über das Retortenbaby. Stimmt’s?«
»Aber sicher!« nickte sie aufgeregt.
»Wenn ich dir aber nicht helfe, hast du immerhin meine Story. Du kannst zur Erde zurückkehren und deinem Boß
meine Story verkaufen.«
Sie runzelte freudlos die Stirn. »Ich möchte es ungern
tun, David.«
»Aber du tust es, wenn du mußt.«
»Wenn ich gezwungen bin… Ich weiß nicht, was ich
tun soll.«
Aber ich weiß es, sagte David zu sich.
Das Gremium
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