Die Kometenjäger: Roman (German Edition)
nicht versuchen dürfen, so viel Schönheit zu malen, und allein der Versuch war straf bar.
Der Dachboden ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Der Vorhang, der unbewegt in einer Ecke hing und die Erinnerung an Livingstons Frau beschützte. Es war, als lebte nicht nur ihr Andenken, sondern auch ihr Geist in diesem Winkel, als arbeitete er unermüdlich hinter dem Vorhang und fügte der unfertigen Leinwand jede Nacht ein paar Pinselstriche hinzu.
Einmal stahl ich mich unbemerkt hinauf durch den Flur auf den Dachboden und betrachtete die Anordnung. Die Staffelei und die neuen Keilrahmen, die auf dem Boden standen. Wie um dem unsichtbaren Geist der Malerin Zeit für einen Einspruch zu geben, blieb ich ein paar Sekunden vor der Staffelei stehen, dann erst nahm ich das unfertige Bild behutsam herunter und lehnte es gegen die Wand. Nebenan lehnten ein paar Keilrahmen in verschiedenen Größen, die noch in Plastikfolie verpackt waren. Ich griff mir den größten heraus, ein billiges Modell, das bereits mit Leinwand bespannt war, schälte ihn aus seiner Hülle, stellte ihn auf die Staffelei und setzte mich davor.
Nichts passierte! Natürlich, es passierte nie etwas dabei – die Albernheit meiner Übung war mir bewusst. Der Künst ler, der sich der leeren Leinwand aussetzte und sich von ihr kitzeln ließ, war eine Kamelle aus dem Reich der Künstlermythen. Die Wahrheit war: Die Ideen kamen nicht, nur weil man vor einer Leinwand stand. Sie verschwanden geradezu, wenn man sich ihr aussetzte. Man musste vorher wissen, was man wollte. Oder lag es nur daran, dass ich gar kein Künstler war? Auf der vordersten Kante des Stuhls sitzend, behielt ich die weiße Fläche fest im Blick, so als könnte ich das Bild, das dort entstehen musste, durch bloßes Spähen erkennen. Zu sagen, dass ich gar nichts sah, wäre nicht richtig. Eher verhielt es sich so: Was ich sah , war noch nicht viel. Die Schemen ähnelten den Bildern, die ich aus dem Teleskop kannte – in jenem ersten Stadium der Beobachtung, in dem die Dinge noch nicht ganz sie selbst waren.
In der zweiten Maihälfte wurden die Tage unerträglich heiß. Die Natur des Canyons litt unter der Dürre. Die letzten Pfützen trockneten aus, mitsamt allem, was darin lebte. Selbst die stark riechenden Kreosotbüsche warfen ihre öligen Blätter ab. Livingston sagte mir, es sei die Zeit des »Trockenschlafs«, in der jede Pflanze und jedes Tier die letzten Überlebensreserven mobilisiere. Waschbären und Nasenbären holten sich sterbende Fische aus dem versiegenden Bach. Habichte griffen von oben jedes Tier an. Und auch für die Astronomen waren die Zeiten schwierig. Die Dunkelheit währte nun nur noch wenige Stunden.
Draußen auf meiner Bank am Teich verwandelte sich die Dämmerung immer langsamer in Nacht. Dank Tom kannte ich alle Phasen und Metamorphosen dieser Stunden zwischen Tag und Nacht. Ich konnte sie beinahe so klar unterscheiden wie Tag und Nacht selbst: die »rechtliche« Dämmerung, die nautische Dämmerung, die astronomische Dämmerung. Ich konnte bewusst erleben, was in dieser Zeit mit meinen Augen geschah, das Umschalten von Farbensicht auf Restlichtverstärkung, von Zapfenzellen auf Stäbchenzellen. Zuerst gingen die Farben an den Enden des Spektrums verloren, die verschiede nen Blau-, Violett- und Rottöne. Gelb und Grün hielten sich länger. Erst wenn die Sonne achtzehn Grad unter dem Horizont stand, begann die Zeit der Nachttiere, in der wir zu hilflosen Statisten wurden. Jetzt verloren auch die Gegenstände ihre Konturen, sie entzogen sich unserer Kontrolle und fingen an, uns zu beherrschen oder uns Angst einzujagen. Das Kräfteverhältnis zwischen uns und der Welt verschob sich. Ein letztes Mal noch versuchten unsere Augen, ihren Zugriff zurückzugewinnen. Die Pupillen überdehnten sich zu großen angestrengt starrenden Scheiben, in der Netzhaut vollzogen sich photochemische Veränderungen, durch die sie noch empfindlicher wurde, aber auch das konnte nicht verhindern, dass die Dinge vor unseren Augen allmählich zu Gespenstern wurden. Sie entflohen, nahmen Abstand und wurden auf seltsame Art unberührbar. Ihre Stofflichkeit war unverändert, aber es bedurfte der Versicherung, und so empfanden wir eine trotzige Zufriedenheit, wenn wir bei Nacht einen vertrauten Gegenstand berührten.
Wie musste der Luchs, der da draußen auf der Lauer lag, die Dämmerung empfinden? Natürlich war seine Nachtsicht eine beneidenswerte Gabe. Aber vielleicht, dachte ich, wurde er dadurch
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