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Die Kometenjäger: Roman (German Edition)

Die Kometenjäger: Roman (German Edition)

Titel: Die Kometenjäger: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Deckert
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auch bestimmter Empfindungen beraubt, denn die Verwandlung fand für ihn niemals statt. Für ihn blieben die Dinge immer sie selbst. Er sah ihre Umrisse, ihre Oberflächen, ihre gewöhnlichen Bestimmungen und ihre prosaischen Funktionen nachts nahezu ebenso klar wie am helllichten Tag. Die Dämmerung war für ihn nicht mehr als eine gewöhnliche Übergangszone zwischen zwei gleichberechtigten Zuständen, jeder Metaphorik beraubt. Wahrscheinlich empfand er sie als jene Zeit, in der sich ein Teil der Welt grundlos in seine Höhlen zurückzog und den Kampf aufgab.
    Ich entdeckte über dem Garagendach einen roten Lichtschein. An der Wasserstelle vorbei schlenderte ich hinüber, betrat die Garage, und zu meiner Überraschung fand ich das Dach geöffnet. Im Inneren, zwischen den Teleskopen, saß eine dunkle Gestalt, die ich zuerst für Tom hielt, aber die Stimme, die mich begrüßte, gehörte Livingston.
    »Selbst auf der Suche?«, fragte ich ihn.
    »Nein«, sagte Livingston. »Ich sitze nur hier. Mir war nicht nach Fernsehen zumute.«
    Ich umrundete ihn und legte eine Hand auf das blaue Newton-Teleskop. »Darf ich?«
    »Gerne.« Livingston rollte mit seinem Stuhl ein Stück zurück. Ich ließ den Reflektor ein wenig auf der Montierung auf und ab gleiten. Dann machte ich einen kleinen Schwenk, so dass das Teleskop und ich in Richtung Süden blickten. Dort wo der Schütze die Milchstraße streifte, waren einige prächtige Nebel zu finden. Es dauerte nicht sehr lange, bis ich den schönsten von ihnen im Bild hatte.
    »Wow«, sagte ich.
    »Was sehen Sie sich an?«, fragte Livingston.
    »Den Trifid-Nebel.«
    Livingston seufzte. »Was denken Sie, wie oft ich in meinem Leben den Trifid-Nebel gesehen habe?«
    »Ungefähr tausend Mal?«
    »Sagen wir lieber zehntausend. Können Sie die dunklen Bahnen erkennen?«
    »Natürlich«, sagte ich, was der Wahrheit entsprach, denn sie waren recht deutlich.
    Ich schwenkte das Teleskop noch einmal, ohne meine Augen vom Okular zu nehmen. Livingston wartete geduldig im Dunkeln. Ich nahm seine Anwesenheit kaum wahr. Wir waren inzwischen schon so vertraut, dass wir stundenlang gemeinsam schweigen konnten. Bald darauf stieß ich zufällig auf einen schönen aber kleinen Kugelsternhaufen, den ich noch nicht kannte.
    »Zufallstreffer!«, rief ich.
    »Was haben Sie?«, fragte Livingston.
    »Irgendwas ganz in der Nähe des Nebels.«
    »Vielleicht M 22.«
    Ich räumte den Stuhl und ließ ihn an das Teleskop, um meinen Fund zu verifizieren. Livingston sagte gar nichts. Ich fragte mich, was mit ihm los war – schließlich musste er das Objekt sofort erkennen. Aber Livingston schwieg immer noch, so lang und ausdauernd, dass ich gar nicht anders konnte, als an etwas Bestimmtes zu denken. Mit jeder Sekunde, die still verstrich, wurde die unmögliche Idee in meinem Kopf verführerischer, bis ich mich kaum noch dagegen wehren konnte: Was, wenn das Objekt, das ich gesehen hatte, noch keine Nummer hatte? Was, wenn …
    »Ich kann ihn nicht sehen«, sagte Livingston.
    »Unmöglich«, sagte ich. »Er ist klein und hell.«
    »Ich kann ihn leider …«, sagte Livingston, und seine Stimme wurde schwer, »… gerade …nicht sehen.«
    »Ist er aus dem Bild gedriftet?« Wir wechselten noch einmal die Plätze, und ich fand den Haufen leicht wieder. »Da ist er doch.«
    Livingston sagte schon wieder nichts. Er hatte sich auf einem Schemel neben dem Dobson niedergelassen und saß dort ganz zusammengekauert.
    »Was ist mit Ihnen?«, fragte ich erschrocken.
    »Die Ärzte sagen, ich verliere Nervenfasern in den Augen. Deswegen habe ich …diese Ausfälle. Das kommt manchmal.«
    »Ist das eine Krankheit?«
    »Der verbreitete Ausdruck ist ›Grüner Star‹. Ein überaus passender Befund für einen Beobachter, was?« Er lachte bitter.
    »Kann man das nicht operieren?«, fragte ich.
    »Doch, aber es ist zu spät. Ich komme nicht mehr auf hundert Prozent. Und siebzig Prozent reichen mir nicht.«
    Ich schwieg so lange, bis er wieder sprach.
    »Wissen Sie, es ist ohnehin gleichgültig. Ich muss nicht mehr gut sehen. Ihr Freund Tom, er ist wirklich dafür geboren. In besseren Zeiten wäre er sehr erfolgreich gewesen.«
    »Aber Sie haben auch noch eine Chance!«
    »Ach, sie bauen schon die nächsten großen Automaten. In Chile, auf Hawaii. So lange, bis das kleinste Fenster für uns geschlossen ist. Gegen die neuesten Teleskope haben wir keine Chance. Das ist die Wahrheit.«
    »Aber es wird immer eine Hintertür geben, das haben

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