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Die Kometenjäger: Roman (German Edition)

Die Kometenjäger: Roman (German Edition)

Titel: Die Kometenjäger: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Deckert
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dranbleibst.«
    Ich sah weiter durchs Okular, mit wachsendem Respekt für Livingston, den Mann und den Kometen. Nach einer stillen Minute begann Tom wieder zu sprechen. Seine Stimme nahm einen leise murmelnden Singsang an , und in diesem neuen Ton begann er mir den Kometen zu beschreiben. Sein fester Kern sei sehr klein und gar nicht erkennbar, erklärte er mir. Was man sehe , sei lediglich die große Staubwolke, die ihn umgebe, die »Koma« – und wirklich bildete ich mir jetzt ein, sie als Wolke aus Staub wahrzunehmen. Er sagte auch noch etwas von einem »Kernschatten«, der den Schweif des Kometen teile, von »Streamern« und »Jets« und von »Enveloppen«, aber die könne man leider nicht sehen. Konnte ich nicht? Ich bildete mir ein, dass da wirklich ein Schatten in der Mitte des Schweifs war. Ich konnte mir sogar vorstellen, »Jets« zu sehen, Fontänen aus Licht, die aus dem diffusen Inneren des Kometen hervorbrachen. Mit wachsendem Enthusiasmus stellte ich fest, wie der Schemen vor meinen Augen eine Gestalt bekam. Tom sprach zu mir mit der ruhigen Expertise eines alten Museumsführers. Nur dass das, was ich sah kein Gemälde an der Wand war, kein unumstößlicher Gegenstand aus Leinwand und Farbe. Dieses Himmelsobjekt materialisierte sich erst, indem Tom von ihm sprach – wie ein Bild, das noch in Arbeit war.
    »Mach mal Pause«, sagte Tom. »Du strengst dich zu sehr an.«
    »Woher weißt du das?«
    »Du atmest gar nicht mehr.«
    Er hatte Recht. Ich hielt die Luft an und starrte so konzentriert, dass mir bereits die Augen tränten. Nicht nur mein Sehnerv, jeder einzelne Muskel in meinem Körper war angespannt. Ich machte einen Schritt von dem Teleskop weg.
    Tom reckte die Arme in die Luft und vollführte eine kleine Dehnübung. »Du fängst ja gerade erst an. Es werden noch andere kommen.«
    »Wann kommt denn der nächste?«
    »Der nächste? Das weiß man nie. Es kann jeden Tag ein neuer auftauchen.«
    Er versetzte dem Teleskop mit der Hand einen Schubs.
    »Möchtest du noch mal?«, fragte er. »Wir müssen nicht den ganzen Abend mit dem Kometen verbringen.«
    »Ich bin schon ein bisschen müde. Vielleicht ein andermal?«
    »Sicher, fahren wir heim.«
    Fünf Minuten später startete er den Wagen, und wir schossen los, dass der Kies hinter uns spritzte. Tom wirkte unverändert wach – vielleicht waren Beobachter gegen Müdigkeit gefeit – , mich dagegen hatte die Überdosis frischer Luft so schläfrig gemacht, dass ich nun sogar unempfindlich gegen seine halsbrecherische Raserei geworden war. Die fahlen Lichter des Armaturenbretts brannten auf meiner Netzhaut, als ich eindämmerte. Irgendwann stieß Tom mich an , und wir parkten unter orangefarbener Straßenbeleuchtung. Ich öffnete die Beifahrertür und sah hinaus. Über den Dächern der Hochhäuser war wieder der alte Stadthimmel. Nicht mehr als ein Dutzend blinkender Sterne in diesem undurchsichtigen Eintopf aus Grauorange, in dem immer noch der Strahler umherrührte. Neonreflexionen schwammen auf gläsernen Fassaden wie hysterische Seerosen.
    Ich streckte meine Beine und bedankte mich bei Tom. Es war viel zu spät für lange Reden. Er nickte mir freundlich zu.
    »Dann bis zum nächsten Mal«, sagte ich und stieg aus.
    »Das nächste Mal ist erst in dreizehntausend Jahren.«
    »Was?«
    »Livingston. Er kommt erst in dreizehntausend Jahren zurück.«
    »Wenn ich dran denke, ruf ich dich trotzdem an.«
    »Mach das.« Seine Stimme klang immer noch eigenartig wach. Dann winkte er rasch und fuhr davon.

KAPITEL 4

    A m nächsten Morgen setzte ich mich spät an meinen Zei chentisch und ließ kleine Kometen auf das Haus von Monsieur Lamarre fallen. Ich begann mit feuerbeschweiften Sternen, die sein Dach durchschlugen oder Teile der Garage zerstörten, dann wurden meine Visionen apokalyptischer und die gesamte Nachbarschaft von Monsieur Lamarre wurde unter dem schrecklichen Schauer in Mitleidenschaft gezogen – der freundliche Gemüsehändler und seine Waren (»le concombre«, »le haricot vert«), die Werkstatt (»le garage«), die Wäscherei (»la blanchisserie«), das Wirtshaus (»le bistrot«) und die Schule (»le lycée«).
    Später versuchte ich mich an realistischen Zeichnungen des Kometen, doch keine davon glich dem Objekt, das ich gesehen hatte. Ich schraffierte viel mit dem Bleistift herum, aber es blieb bei einer von Anfang an viel zu konkreten Darstellung, die dem fast magischen Auftauchen des Phantoms auf meiner Netzhaut nicht gerecht wurde.

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