Die Kometenjäger: Roman (German Edition)
waren. Wir schnupperten nur an der Welt und hofften, dass die Welt etwas abfärbte. In unserem Jahrgang waren wir die immer etwas Distanzierten gewesen, die geschmeidigen Andersdenkenden. Aber inzwischen war ich ein achtundzwanzigjähriger Andersdenkender, der immer noch in der Kleinstadt saß und dem allmählich die Ideen ausgingen. Unser kleines Abgrenzungsspiel, das wusste ich längst, machte uns kein bisschen besser oder klüger als die anderen. Wir hatten uns immer nur so gegeben. Und langsam musste es auffallen.
Tom hätte zu unserem exklusiven Club normalerweise keinen Zutritt gehabt.
Im Grunde verstand ich nicht, wie sich jemand die ganze Nacht mit ein paar einsam funkelnden Lichtern am Himmel abgeben konnte. Was die Sache aber noch rätselhafter machte: Tom wirkte auf mich gar nicht wie ein typischer Naturwissenschaftler. Natürlich deuteten die Protokolle seiner Nächte auf bestimmte Forschereigenschaften hin, in all dem steckte viel Geduld und eine erkennbare Systematik, aber ich fragte mich, ob in den Schriften und Zeichnungen vielleicht noch etwas anderes verborgen lag – irgendein dunkleres Bedürfnis, vielleicht sogar eine exzentrische Begabung. Es musste wohl, dachte ich, etwas an ihm geben, was ich noch nicht ganz erfasst hatte. Und so näherte ich mich ihm mit dieser Neugierde, die man nur für Menschen mit abweichenden Interessen entwickeln kann. Man möchte ihre Leidenschaften gar nicht teilen, sondern nur die Quellen entdecken, aus denen sie sich speisen.
Nach meinem Besuch im Observatorium hatte ich ihn eingeladen mich zu besuchen, falls er in der Nähe sei. Wenige Tage später klingelte er tatsächlich an meiner Tür. Ich kochte uns Kaffee. Als ich mit zwei Tassen aus der Küche zurückkehrte, ging er auf und ab und betrachtete wortlos all die Zeichnungen an meinen Wänden. Das meiste davon waren freie Arbeiten ohne Auftrag – aquarellierte Landschaften, verschnörkelte Graffiti-Schriftzüge, Cartoon-Figuren. Tom studierte sie so minutiös, als wollte er sich jede einzelne für sein ganzes Leben einprägen. Als er den großen Krater im Vorgarten von Monsieur Lamarre sah, grinste er.
»Meteoriteneinschlag?«
»Ein großer Komet«, sagte ich.
»Immerhin, die Säugetiere haben überlebt.«
An diesem Abend zogen wir noch durch die Stadt. Ich ging mit ihm in meine Stammbar, und da es der erste wirklich kühle Herbstabend war, tranken wir Wodka zum Aufwärmen. Er trank nur einen einzigen. Ich nahm an, dass er knapp bei Kasse sei, aber er wollte sich nicht einladen lassen, so bestellte ich alleine weiter, trank und fragte ihn aus. Warum zum Beispiel wollte Tom keine akademische Laufbahn einschlagen? War es wirklich möglich, dass er es nicht einmal in Betracht zog? Selbst wenn ihm die Mathematik nicht behagte, wusste er doch bereits sehr viel über die Sterne. Aber aus irgendeinem Grund legte er Wert darauf, Amateur zu bleiben. Das wenige Geld, das er mit seinen flüchtigen Jobs oder mit dem Bau von Teleskopen verdient hatte, steckte in seinem Auto und in der Sternwarte. Ich glaube, er hatte das Abitur gemacht, aber selbst da war ich mir nicht sicher. In den letzten Jahren hatte er einige Zeit damit verbracht, das Erbe seines Großvaters zu pflegen und auszubessern. Ansonsten benötigte er kaum Geld, da er noch bei seinem Vater lebte. Nichts schien ihn weniger zu interessieren als eine Laufbahn. Aber was wollte Tom? Hatte er irgendwelche Ziele? Jedenfalls keine, die er mir an einem Abend erklären konnte. Immerhin erzählte er mir, dass er davon träume, für längere Zeit zu reisen, durch den amerikanischen Westen, wie sein Großvater, der oft und mit viel Begeisterung von den Wüsten, Prärien und Canyons gesprochen habe.
Mit Tom zu reden, war für mich eine seltsame Erfahrung: Ich konnte mit ihm nicht über Bands oder über Comics sprechen. Er lebte nicht in meiner Welt, er schien die Dinge, die mich interessierten, kaum wahrzunehmen. Wir redeten eigentlich aneinander vorbei, und gleichzeitig war es unmöglich, sich mit ihm zu langweilen. Die einzige Schnittmenge zwischen uns waren Bücher. Meine intellektuelle Fassade begann aber rasch zu bröckeln, als ich feststellte, wie belesen Tom war. Er bevorzugte raumgreifende Geschichten, angelsächsischen Grusel, Reiseliteratur und klassische Abenteuer. Kaum glauben konnte ich, dass er sogar Moby Dick zu Ende gelesen hatte, ein Buch, bei dem ich nicht über ein paar Seiten hinausgekommen war. Mir war es unverständlich, wie man einer Geschichte
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