Die Kometenjäger: Roman (German Edition)
den Schultern und eine Schwarzweißfotografie von einem etwas hageren, älteren Herrn. Er trug förmliche Freizeitkleidung, einen dunklen Pullunder mit eingestickten Karos und einem Abzeichen auf der Brust. Mit einem Arm stützte er sich auf ein altertümliches Teleskop, das leicht wiederzuerkennen war. Ich betrachtete das Foto mit einer seltsamen Rührung.
»Dein Großvater?«
»Ja. Der große Kometenjäger.«
Er sagte es mit sanfter Ironie. Ich ließ mich auf eine Couch fallen. Unter ihr quoll Papier hervor, ein paar mittelgroße Notizbücher mit grau marmorierten Pappeinbänden rutschten mir entgegen. Die Einbände waren mit Toms Namen versehen. Ohne um Erlaubnis zu fragen, schlug ich eins davon auf und begann, auf einer beliebigen Seite zu lesen. Ein handschriftlicher Eintrag in schwarzer Tinte:
23 Uhr: Beobachtung der Venussichel, dünn wie ein Faden. Seeing: gut bis sehr gut. 23.30 bis 0 Uhr: Deep-Sky-Objekte: M 51 und M 63. Der Jupiter geht gegen ein Uhr morgens auf. Sicht auf den Fleck. Mondschatten unterhalb des tiefen äquatorialen Bandes.
Neben diesem Text war eine kleine Tuschezeichnung, die wohl den Jupiter darstellte. Sie offenbarte kaum Einzelheiten, nur das Rund des Planeten und einige gepunktete Linien, die parallel zum Äquator verliefen. Außerdem erkannte ich den roten Fleck – in diesem pointilistischen Stil nur eine zart hingeworfene Umrandung. Das Datum am oberen Seitenrand bezeugte, dass die Zeichnung in einer Frühlingsnacht vor elf Jahren angefertigt worden war. Tom war also noch ein kleiner Junge gewesen, was in merkwürdigem Gegensatz zur Sachlichkeit des Textes stand, der wie ein wissenschaftlicher Bericht klang. Und auch die minutiöse Skizze wirkte nicht wie die Arbeit eines Elf- oder Zwölfjährigen. Ich blätterte um und sah auf der nächsten Seite eine weitere Zeichnung des Jupiters, fast genau wie die erste, dann auf den nächsten Seiten noch mehr Zeichnungen, ohne den Fleck und mit anders gearteten Wolkenformationen, jede mit einem Datum und der genauen Uhrzeit versehen. Dazu immer wieder kurze Bemerkungen, die die jeweilige Nacht charakterisierten: »Seeing mittelmäßig bis gut«, »Cirrus-Wolken am südlichen Horizont«, »kalt und klar, ruhige Luft« . Aus der Abfolge der Daten ging hervor, dass Tom als kleiner Junge offenbar nahezu jede Nacht unter dem Sternenhimmel verbracht hatte. Und das nicht nur bis Mitternacht, sondern weit darüber hinaus, bis in die Morgenstunden. Alle Aktivitäten waren mit einer stoischen Gründlichkeit notiert. Staunend blätterte ich von Seite zu Seite, sah Planeten, Saturnringe, winzige Pünktchen, die Monde darstellten , und schließlich Objekte , wie ich sie noch nie gesehen hatte. Neblige Phantomgebilde in der Form von Blasen oder Schwämmen, asymmetrische, verzerrte Spiralen und längliche Schwaden, die sich wie Wolken über die Seiten des Logbuchs zogen. Die zeichnerische Akribie war beeindruckend, mehr aber noch verwunderte mich die gesamte Idee dieser Art der Buchführung. Die Gleichmäßigkeit, die Regelmäßigkeit der Einträge, scheinbar unbeeinflusst von den vielen Ereignissen, den Aufs und Abs, die das Leben eines Kindes normalerweise erschütterten. Wahrscheinlich hätte ich die Seiten noch lange betrachtet, wenn mich Tom nicht unterbrochen hätte .
»Bist du hungrig?«
»Was?«
Mit einem seltsamen Schwindelgefühl im Kopf betrachtete ich Tom, der auf mich zukam, mir behutsam das Buch vom Schoß nahm und es zuklappte. Alles Papier wanderte zurück unter das Sofa.
Ich war tatsächlich sehr hungrig.
KAPITEL 5
D ass sich zwischen Tom und mir so etwas wie Freundschaft entwickelte, muss wohl ein seltsamer Zufall gewesen sein. Er passte nicht direkt in mein Schema. Allein der Altersunterschied sprach gegen ihn: Fünf Jahre. Das mag nicht nach einer großen Differenz klingen. Aber wie ich es sah, war ich eher Ende zwanzig und er eher Anfang zwanzig. Eine Verständigung zwischen uns war praktisch unmöglich! Von dem größeren Unterschied ganz zu schweigen: Tom beschäftigte sich in seiner Freizeit mit Mondschatten.
Wenn ich meine bisherigen Freunde, größtenteils Leute, die ich seit der Schulzeit kannte, im Kopf vorbeiparadieren ließ, dann konnte ich leicht all die Gemeinsamkeiten zwischen uns finden: Wir lasen Musikzeitschriften. Das gab uns Format und ein natürliches Überlegenheitsgefühl. Wir waren uns sicher, dass wir zu groß für die Kleinstadt waren. Wir besuchten Konzerte unbekannter Bands, die aber »im Kommen«
Weitere Kostenlose Bücher