Die Kommissarin und der Tote im Fjord
ließ Lena den Anlasser ein paar Sekunden ausruhen, bevor sie den Schlüssel zum dritten Mal herumdrehte. Der Motor sprang an, und sie klopfte dem Micra kameradschaftlich auf das Armaturenbrett. »Brav, alter Junge!«
Sie fuhr zurück in die Bygdøy Allé. Dort angekommen, winkte sie Iqbal zu, musste aber zuerst noch einen Parkplatz suchen. Schließlich fand sie eine Lücke in der Gabels Gate.
Als sie wieder auf ihrem Posten ankam, war der Weihnachtsbaumverkäufer schon dabei, zusammenzupacken. Trotzdem bot er ihr Kaffee aus einer Thermoskanne an. Lena nahm dankend an und bekam einen Pappbecher in die Hand gedrückt, der zur Hälfte mit etwas gefüllt war, das an flüssigen Asphalt erinnerte. Sie bekam es nicht runter. Außerdem war sie krank und sollte sich von Kaffee und Alkohol fernhalten, nur noch Möhrensaft und konzentrierte Obstsäfte voller Antioxidationsmittel trinken.
Sobald der Weihnachtsbaumverkäufer sich umdrehte, schüttete sie die Säure in den Gully.
Jedes Mal, wenn die Haustür des betreffenden Hauses aufging, konzentrierte sie sich. Doch die Bewohner, die kamen und gingen, waren ältere Frauen in langen Mänteln oder ältliche Herren mit dünnen Beinen in Bürohosen und locker um den Hals geschlungenen Schals.
Jedes Mal, wenn die Tür hinter jemandem ins Schloss fiel, gab sie demjenigen etwas Zeit, bevor sie den Kopf in den Nacken legte und hinaufsah. Die Fenster der Wohnung im oberen Stock blieben dunkel. Ihr Eisatem bekam eine regenbogenfarbene Aura, wenn sie in das Licht der Straßenlaterne hineinatmete.
Die letzten Geschäfte schlossen. Der Weihnachtsbaumverkäufer schlug die Schiebetür seines VW Transporters zu. Er winkte ihr und fragte, ob er sie wiedersehen würde, zum Beispiel morgen.
Lena zuckte mit den Schultern.
»Hab diesen zurückbehalten«, sagte er und zeigte ihr einen Baum, der eine kürzere Ausgabe des vorigen war, dicht gewachsen, mit glänzenden Nadeln. »Derselbe Baum, nur einen Meter gekürzt.«
»Super«, sagte Lena. »Perfekt, aber ich bekomme ihn so nicht mit. Sorry.«
»Na, mal sehen«, sagte er optimistisch, winkte ihr durch die Scheibe zu und fuhr davon.
Kurz vor Mitternacht war Lena steif vor Kälte. Sie hatte sich in ihrer Phantasie lange mit den Torten im Pascal beschäftigt und gab sich noch zehn Minuten, bevor sie aufgab.
Sie hasste es aufzugeben.
Die zehn Minuten vergingen, und Lena zählte an ihren Knöpfen ab. Soll ich, soll ich nicht?
Ein Bus kam langsam herangefahren und hielt an der Bushaltestelle. Als er weiterfuhr, stand dort eine junge Frau. Lena folgte ihr mit dem Blick. Moderne Pelzmütze über einer Flut heller Haare, dir ihr bis auf den Rücken reichten. Die Frau lief über die Straße, leichtfüßig, in einer kurzen taillierten Jacke. Die enge Hose betonte schwingende Hüften und einen geschmeidigen Hintern, nach dem sich die Männer garantiert umdrehten. Die Frau schloss sich die richtige Tür auf. Dann schlug die Tür hinter ihr zu.
Lena spähte zu den Fenstern im oberen Stockwerk hinauf. Sie stellte sich vor, was wohl drinnen im Haus geschah, hörte förmlich den Fahrstuhl anhalten, stellte sich vor, dass sie den Fahrstuhl nach oben steigen hörte. Sah vor sich, wie die Fraunach den Schlüsseln in ihrer Tasche suchte und das Licht einschaltete …
Die Fenster im oberen Stockwerk blieben dunkel.
Das war der Tropfen. Es reichte.
Lena ging langsam in die Gabels Gate zurück zu ihrem Wagen. Als sie die Wagentür öffnete, reichte die Batterie nur noch für ein fast unsichtbares Glimmen der Deckenbeleuchtung. Und auch das verglomm, während sie zusah.
Dennoch setzte Lena sich in den Wagen, trat einmal das Gaspedal durch und drehte optimistisch den Zündschlüssel herum.
Doch der alte Junge war tot. Ein trockenes Klicken ertönte, mehr nicht.
Es war einfach nicht ihr Tag.
»Nach Hause«, sagte sie laut, stieg wieder aus und schloss den Wagen ab. Ging langsam zurück, den Hügel zur Bygdøy Allé hinauf, auf der Suche nach einem Taxistand. Als sie auf der Höhe des Hauses war, warf sie einen Blick hinauf zu den Fenstern der Wohnung, die sie die ganze Zeit beobachtet hatte.
In der oberen Etage brannte Licht.
5
Das Päckchen, das er im Internet bestellt hatte, lag im Briefkasten. Wenn Gunnarstranda selten einmal ein Päckchen bekam, wurde er wieder wie ein Kind. Seine Hände zitterten, und er hatte keine Geduld, Knoten zu lösen oder eine Schere zu holen, um auf gepflegte Weise das Klebeband durchzuschneiden. Er riss das Päckchen
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