Die Kommissarin und der Tote im Fjord
auf dem Kai nichts gesagt? Alle Journalisten, die vor der Absperrung standen, wollten wissen, ob wir die Identität des Toten kannten. Steffen wusste, wer da ertrunken war, hat aber geschwiegen. Und warum hat er vor Adelers Wohnung auf mich gewartet?«
Gunnarstranda nickte nachdenklich. »Du stellst eine Menge Fragen«, sagte er. »Aber die müssen nicht unbedingt alle die gleiche Antwort haben. Gehen wir also mal davon aus, dass du dieses Täuschungsmanöver durchziehst, um den Journalisten aus der Reserve zu locken. Vergiss nicht, dass der Journalist mit Rise verbandelt ist. Wie willst du diese Aktion durchführen, ohne zu riskieren, dass die Lüge ans Licht kommt?«
Lena dachte nach. »Man könnte die Freundschaft zwischen Rise und Gjerstad nutzen«, sagte sie. »Wenn wir dem falschen Zeugen einen Namen geben, müssen wir Rise außen vor halten – er darf nur den Namen erfahren.«
»Und wie sollen wir das machen?«
»Du hast gerade ›wir‹ gesagt«, sagte Lena mit einem Lächeln um die Lippen. »Du bist fast überzeugt.«
Gunnarstranda schüttelte den Kopf und sagte: »Es reicht nicht aus, das Gefühl zu haben, dass Gjerstad der Täter ist. Du musst beweisen, dass er vor Ort war, dass er die Möglichkeit und ein Motiv hatte, den Mord zu begehen. Und du weißt nicht, ob Steffen Gjerstad auf dem Kai war, als der Mord geschah.«
»Wenn er dort war, dann hatte er auch die Möglichkeit«, sagte sie.
»Aber kennst du sein Motiv?«, fragte Gunnarstranda.
»Ich bin sicher, dass es ein Motiv gibt«, antwortete Lena.
»Aber du kennst es nicht.«
»Nein. Aber derjenige, der Adeler getötet hat, hat auch die Augenzeugen aus dem Verkehr geschafft. Wenn wir durchsickern lassen, dass es einen dritten Zeugen gab, wird der Täter auch auf den dritten Zeugen losgehen.«
»Aber du hast noch immer keine Motiv für den Mord an Adeler. Denk an Murphys Gesetz. Wenn es eintritt, dann kommt am Ende dabei raus, dass die Anzeige zurückgezogen wird, weil der Angriff auf den Lockvogel auf illegale Weise provoziert wurde. Dann kommt der Täter frei, und du hast alle Chancen verspielt, den Kerl dingfest zu machen.«
»Aber es wird immer noch ausreichend Gründe für einen Verdacht geben. Wir können ihn verhören.«
»Aber der Mann wird alles abstreiten und eine Erklärung abgeben – auf Empfehlung der Verteidigung. Und dann ist es nur eine Frage der Zeit, wann er freikommt. Nein, Lena. Das Risiko ist zu groß«, schlussfolgerte Gunnarstranda. »Es wird keine Aktion mit einem dritten Augenzeugen geben.«
Ohne ein weiteres Wort drehte sich Gunnarstranda um und ging. Lena blieb enttäuscht stehen und sah der kleinen, schiefen Gestalt hinterher.
Doch plötzlich drehte er sich um und sah sie noch einmal an. »Wie kannst du behaupten, dass Stian Rømer nicht in dem Flieger gesessen hat?«
Sie schluckte und rief laut, damit ihre Stimme trug. »Ich musste Ingrid Kobro versprechen, darüber nicht zu reden.«
Eine feige Antwort, dachte sie und legte den Kopf in den Nacken. Der fallende Schnee war am Nachthimmel unsichtbar, wirkte aber unter den Straßenlaternen, die in einer langen Reihe standen, dicht und undurchdringlich.
Sie senkte den Blick, bereit für eine Konfrontation. Aber Gunnarstranda entfernte sich ohne ein weiteres Wort.
Der Schnee legte sich wie eine feine Puderschicht auf die Straße und dämpfte die Geräusche. Ein Traktor mit Schneepflug vorn und Schneefräse hinten fuhr auf den Youngstorget. Die orange blinkenden Scheinwerfer wurden von den umliegenden Wänden reflektiert. Sogar das Dröhnen des Dieselmotors war nur ein gedämpftes Brummen.
Weihnachtsstimmung, dachte Lena und versuchte sich zu erinnern. Eine solche Stille hatte sie bei Schnee nicht mehr wahrgenommen, seit sie ein kleines Mädchen war.
Lena lehnte sich an die Mauer und sah Gunnarstranda hinterher, der ein paar Sekunden zögernd vor der Treppe zur alten Møllergata 19 innehielt, dann aber abdrehte und die Straße überquerte. Bald war die Silhouette des Polizeibeamten mit dem Schatten des hoch aufragenden Gebäudes verschmolzen, das durch den Schnee jetzt niedriger erschien. Bald würden seine Fußspuren nur noch kleine Vertiefungen in der dicker werdenden Schneedecke sein.
Lena atmete tief durch, drehte sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung davon.
5
Eine Weihnachtsmelodie schallte durch die Korridore: John Lennon und Yoko Onos Happy Xmas War Is Over .
Das ist sicher richtig, dachte Lena und ging zu den Postfächern. In ihrem
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