Die Kommissarin und der Tote im Fjord
Fach hatte sich ein ganzer Stapel angesammelt. Es war bis oben hin voll. Sie nahm den Stapel mit und blätterte ihn auf dem Weg zu ihrem Büro durch.
Mittendrin lag ein dicker brauner A4-Umschlag.
Sie wollte ihn gerade zurückschieben, als ihr der Absender auffiel: Finanzministerium – Sekretariat des Ethikrates. Lena zog die Augenbrauen hoch.
Sie ging in ihr Büro und öffnete den Umschlag.
Darin lag ein Konvolut zusammengehefteter bedruckter Blätter. Auf der ersten Seite klebte ein gelber Merkzettel:
Hei Lena,
dachte, dies würde Sie interessieren. Der Bericht ist fertig, wie Sie sehen, wurde aber noch nicht abgeschickt. Nach Sveinungs Tod wurde der Fall einem anderen Sachbearbeiter übergeben, der seine eigene Einschätzung abgeben wird. Da dieser Bericht nun nicht mehr offiziell zur Fallbearbeitung gehört, können wir, denke ich, eine Ausnahme machen, so dass Sie ihn einsehen können. Voraussetzung ist natürlich, dass Sie dieses Dokument als vertrauliche Information behandeln. Frohe Weihnachten,
Soheyla M .
Das muss ein Zeichen sein, dachte Lena. Soheyla Moestue war sehr korrekt und formell gewesen, als Lena sie im Sekretariat des Ethikrates befragt hatte. Soheyla hatte noch nicht einmal prüfen wollen, ob ihr Kollege Sveinung Adeler seinen Berichtüber die Reise nach Westsahara schon geschrieben hatte. Und jetzt schickte sie ihr den gesamten Bericht über MacFarrell Ltd.
Der Bericht ist fertig, wie Sie sehen, wurde aber noch nicht abgeschickt.
Lena las den Satz noch einmal.
Sie betrachtete das Datum auf der ersten Seite: Mittwoch, 9. Dezember.
Fertig – noch nicht abgeschickt.
Vom Sekretariat des Ethikrates nicht abgeschickt. Warum nicht?
Lena musste mit Soheyla Moestuen sprechen. Sie sah auf die Uhr. Es war spät. Niemand arbeitete jetzt mehr, aber Weihnachten stand vor der Tür, und die Menschen waren von früh bis spät auf den Beinen. Lena zog ihre Schreibtischschublade auf und fand die kleine Mappe, in der sie alle Visitenkarten aufbewahrte. Yes!
Auf der Karte von Soheyla Moestuen stand eine Handynummer.
»Danke für den Bericht«, sagte sie und kam dann direkt zur Sache. »Ich frage mich nur eines: Warum wurde der Bericht nicht rausgeschickt? Hat man ihn wirklich gestoppt?«
»Kann ich Sie zurückrufen? Ich stehe in einem Geschäft«, sagte Soheyla.
» Please «, sagte Lena. »Ich glaube, ich weiß, warum, aber ich muss es aus Ihrem Mund hören.«
»Der Fall wurde an einen anderen Sachbearbeiter übergeben«, sagte Soheyla mit gestresster Stimme. Lena konnte Kindergeschrei und die Geräusche einer Kasse im Hintergrund hören. »Weil Sveinung tot ist, kann er auch seine Schlussfolgerungen nicht mehr vertreten. Deshalb haben wir darum gebeten, seinen Bericht zurückzubekommen, als wir von seinem Tod erfuhren.«
»Ihn zurückzubekommen?«
»Ja, er ist mit der Post am Mittwoch, dem 9. Dezember, rausgegangen. Am nächsten Tag, am Donnerstag, als klar war, dass Sveinung tot ist, haben wir darum gebeten, all seine Fallberichte zurückzubekommen, da er sie ja nicht mehr vertreten kann. Der Bericht, den Sie bekommen haben, war noch nicht bearbeitet. Aber von alledem wusste ich noch nichts, als wir vor einer Woche miteinander gesprochen haben.«
»Vielen Dank«, sagte Lena und ließ Soheyla in Ruhe weiter einkaufen.
Sie lehnte sich zurück und spürte, wie die Puzzleteile sich plötzlich sortierten. Das Datum auf dem Bericht erklärte, was geschehen war.
Sveinung Adeler, der im Auftrag des Ethikrates eine Firma überprüfte, die im besetzten Westsahara operierte, war von Aud Helen Vestgård gebeten worden, noch einmal einen Vertreter von Polisario zu treffen. Ein Treffen mit Polisario wäre an und für sich eine einfache, problemlose Sache gewesen. Aber ein Treffen in einem Restaurant in Oslo, auf Initiative – und gemeinsam mit – einer Parlamentsabgeordneten war etwas ganz anderes. Solch ein Setting verlieh dem Treffen eine politische Bedeutung mit Schlagseite. Was ursprünglich zur ganz normalen Recherche eines Sachbearbeiters gehörte, konnte in diesem Rahmen als politischer Akt und Lobbyismus gedeutet werden. Das hatte Sveinung Adeler selbstverständlich bedacht. Er war ein junger Mann, der seine Karriere im Blick hatte, ein Streber und Namedropper, ein Parteimitglied. Natürlich hatte er keine Lust, eine Parlamentsabgeordnete abzuweisen, die sich dazu herabließ, ihn anzurufen und zu einem Essen einzuladen. Doch das brachte ihn in ein Dilemma. Sveinung Adeler ahnte wohl kaum,
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