Die Kommissarin und der Tote im Fjord
hatte vielleicht Recht mit seinen Spekulationen. Der Journalist in ihm konnte irgendetwas ausgegraben haben, was das Tageslicht scheute. Warum sollte Aud Helen Vestgård Lena sonst offen ins Gesicht gelogen haben?
Lügen war eine ernste Angelegenheit, wenn es um einen Mord ging.
Lena stand auf. Soheyla Moestue ebenfalls. »Tut mir leid«, sagte Lena, »es sieht so aus, als würde ich Ihre Zeit verschwenden.«
Die Frau lächelte entwaffnend.
Sie verließen den Sitzungsraum und gingen den Korridor entlang, Seite an Seite.
»Nur noch eine kleine Sache«, sagte Lena, als sie vor den Fahrstühlen stehen blieben.
»Ja?«
»Sie dokumentieren doch Ihre Arbeit hier, oder?«
»Wir produzieren eine Menge Material, ja, das dann an den Ethikrat geschickt wird.«
Soheyla Moestue drückte auf den Fahrstuhlknopf.
»Aber was untersuchen Sie, ganz konkret?«
»Ethik. Wir versuchen, zu erfassen, ob ein Betrieb in Kinderarbeit involviert ist, ob er sich an die Normen und Regeln der Umweltverordnungen hält, ob er gegen das internationale Völkerrecht verstößt.«
»Sie recherchieren. Und das bedeutet doch sicher, dass Sie viel reisen, oder?«
»Natürlich. Kinderarbeit zum Beispiel muss dokumentiert werden, mit Filmen, Fotos, Interviews – und das ist nicht leicht. Die Gerüchte laufen vor uns her, Dinge werden Hals über Kopf geändert. Wenn wir in einer Fabrik ankommen, wo Kinder arbeiten, ist plötzlich im Umkreis von einem Kilometer kein Kind mehr zu sehen. Vieles von dem, was heutzutage als ethisch nicht vertretbar bezeichnet wird, ist schwer zu beweisen.«
»Und was ist mit Westsahara?«
Soheyla zögerte. »Westsahara ist ein großes Thema.«
»Warum?«
Der Fahrstuhl hielt. Die Tür öffnete sich, und Lena blockierte sie, indem sie den Arm ausstreckte.
»Marokko hat Westsahara besetzt«, sagte Soheyla. »Und das Parlament hat beschlossen, keine staatlichen Gelder in Betriebe zu investieren, die Geschäfte mit einer Besatzungsmacht treiben. Aber irgendwo verläuft auch eine Grenze. Auch wenn eine Firma mit einer Besatzungsmacht Geschäfte macht und damit gegen das Völkerrecht verstößt, hat diese Firma Kunden und Zwischenhändler, die nicht unbedingt gegen das Völkerrecht verstoßen, sondern von der Spinne im Netz abhängig sind. Verstehen Sie? Die Politik ist manchmal wie ein Wasserspiegel, der die Farbe der Umgebung annimmt und die des Auges, das ihn betrachtet. Wer in Fragen des Völkerrechtsentscheiden muss, braucht oft eher sprachliche als moralische Kompetenzen.«
Lena sah Soheyla in die Augen und las darin, dass die Frau ahnte, welche Frage sie ihr jetzt stellen würde: »War Adeler in Westsahara?«
»Ja, das war er. Aber wie gesagt, ich weiß nicht, bei welchen Firmen er konkret recherchiert hat.«
»Aber er ist hingeflogen, hat mit Menschen gesprochen, die verständlicherweise die Arbeit nicht schätzten, die er dort gemacht hat?«
»Ja, aber trotzdem: Sveinung deshalb etwas anzutun wäre dümmer, als den Pianisten zu erschießen, wenn einem ein Musikstück nicht gefällt. Schlicht und einfach unsinnig.«
»Wäre es möglich, dass ich den Bericht lesen könnte, den Sveinung Adeler über McFarrell Ltd. geschrieben hat?«
Soheyla schüttelte den Kopf. »Erstens wissen weder Sie noch ich, ob es so einen Bericht überhaupt gibt. Und wenn es ihn gibt, dann ist er streng vertraulich. Ihn zur Einsicht freizugeben wäre eine Sache des Finanzministeriums.«
»Und wer ist in diesem Fall das Finanzministerium?«
»Der Finanzminister.«
Lena stieg in den Fahrstuhl und drückte auf den Knopf. »Danke, dass Sie sich Zeit genommen haben«, sagte sie. »Möglicherweise komme ich noch einmal wieder.«
Die Fahrstuhltür schlug zu, Lena fuhr nach unten und trat hinaus auf die Rådhusgata.
2
Kaum war sie im dritten Stock des Polizeipräsidiums aus dem Fahrstuhl gestiegen, traf sie auf Rindal. Lena wollte umkehrenund mit dem Fahrstuhl wieder nach unten fahren. Aber sie war nicht schnell genug.
Rindal zuckte zusammen und sagte: »Da bist du ja, endlich!« Sein Gesicht war gerötet, fast konnte sie es von der Schädeldecke unter seinem dünnen Haar dampfen sehen.
»In mein Büro«, sagte Rindal kurz, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte voran.
Wortlos setzte er sich hinter seinen Schreibtisch.
Sie stellte sich vor dem Tisch auf und sah ihn an.
»Die Tür«, sagte er.
Lena drehte sich um und machte sie zu. Aufgebracht riss er das Papier von einem Kaugummi und biss wütend hinein. »Jetzt sag mir
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