Die Kommissarin und der Tote im Fjord
Nasenspitze hing ein Tropfen. Sie suchte in ihrer Manteltasche, fand ein Taschentuch, putzte sich die Nase und zog dann einen Schlüsselbund hervor.
»Welcher Stock?«, fragte Lena.
»Zweiter«, sagte die Frau. »Und kein Fahrstuhl. Es ist schrecklich, alt zu werden, das kann ich Ihnen sagen. Genießen Sie das Leben, solange Sie jung sind.«
Lena nahm den Einkaufstrolley in die rechte Hand und stützte die Frau mit der anderen. Sie war so dünn und zerbrechlich, dass Lena fast Angst hatte, ihr Unterarm könne brechen. Die alte Frau kämpfte mit den Treppen. Sie konzentrierte sich darauf, bei jeder Stufe einen Fuß nach dem anderen zu heben, und fiel jedes Mal fast gegen Lena, wenn sie das Bein streckte. Ein süßlicher Alkoholgeruch umwehte sie.
Der Einkaufstrolley war ungewöhnlich schwer. Wie hatte sich die Frau bloß vorgestellt, damit ganz allein die Treppen hoch zu kommen?
Sie erreichten den ersten Stock. Das Türglas war ebenso dunkel und abweisend wie das der Fenster zur Straße. Es schien, als würde die Tür in dem halbdunklen Treppenhaus pulsieren. Lena versuchte, nicht hinzusehen.
Schließlich mochte Lena die schwere Tasche nicht mehr tragen und setzte sie auf einer Treppenstufe ab. Doch das gefiel der alten Dame überhaupt nicht. »Die Flaschen«, murmelte sie und wollte wieder nach unten gehen.
»Ich werde sie holen«, sagte Lena schnell. »Jetzt müssen wir erst einmal Sie nach oben bringen.«
»Danke, das ist sehr nett«, sagte die Frau. »Lassen Sie uns ein wenig ausruhen.«
Lena fühlte sich unsicher vor der schwarzen Tür und wollte nicht mehr Aufmerksamkeit erregen als nötig. »Nur noch sieben Stufen«, flüsterte sie.
»Was haben Sie gesagt?«
»Sieben Stufen, wir versuchen’s!«
»Ich war im Weinmonopol«, erklärte die Frau und wäre beinahe auf den Rücken gefallen.
Lena musste sie die letzten Stufen fast hinauf tragen, nahm ihr den Schlüsselbund aus der Hand und schloss ihre Wohnungstür auf. Die Frau wollte aber schon wieder hinuntergehen.
»Kommen Sie jetzt«, rief Lena ärgerlich. »Ich hole die Flaschen!«
»Vielen Dank«, sagte die Frau, als Lena den Wagen in die Wohnung rollte. Im Flur roch es nach Urin und Staub.
Die alte Frau stand mit gekrümmtem Rücken da und sah zu ihr auf. »Möchten Sie’n Schluck, bevor Sie wieder geh’n?«
Lena zögerte. Vielleicht wusste die Frau etwas über den Mieter unter ihr. Andererseits …
Sie schüttelte den Kopf und lehnte höflich ab. Dann wartete sie, bis die Frau die Tür geschlossen hatte, bevor sie sich umdrehte und langsam die Treppe hinunterschlich.
3
Vor der schwarzen Tür blieb sie stehen und dachte: Der Wagen, der dir hinterhergefahren ist, steht draußen. Zwei plus zwei sind vier. Stian Rømer befindet sich dadrinnen. Du weißt, wo er wohnt, jetzt hast du die Wahl, entweder diese Information zu speichern und wieder zu verschwinden – oder einen Schrittweiterzugehen und zu versuchen, die Sache zu klären. Welche Sache?
Ist er wirklich hinter dieser Tür? Und wenn ja, hat er es tatsächlich auf mich abgesehen?
Egal, dachte sie. Wenn er nicht hier wohnte, wenn die Wohnung unbewohnt war, dann war schließlich nichts Schlimmes passiert.
Sie hob die Hand und drückte auf den Klingelknopf.
Nun war es passiert.
Langsam zählte sie im Stillen. Bis dreißig. Bis fünfzig. Nichts geschah.
Keine Schritte hinter der Tür. Nicht das leiseste Geräusch war zu hören.
Sie hob die Hand, um noch einmal zu klingeln.
Da schepperte drinnen eine Kette, und die Tür wurde aufgerissen.
Ein Mann in grünen Militärhosen stand vor ihr und betrachtete sie. Sein Oberkörper war nackt. Es war der muskulöseste Brustkasten, den Lena jemals gesehen hatte. Die Muskeln spielten delikat über einem welligen Sixpack. Die Oberarme waren die eines Gewichthebers. Dieser Mann hätte Werbung für Herrenunterwäsche machen können, wäre da nicht eine hässliche weiße Narbe gewesen, die schräg von der rechten Brustwarze über den Bauch bis unter den Hosenbund verlief.
Allerdings verbarg der Mann den rechten Arm hinter der Tür.
» Can I help you ?«, fragte er.
Sein Gesicht war von der Sonne gebräunt, die Zähne weiß und das angedeutete Lächeln etwas spöttisch. Die Ähnlichkeit mit dem Foto von Ingrid Kobro war verblüffend. Ihre Blicke trafen sich, und Lena erkannte sofort, dass Stian Rømer wusste, wer sie war.
Zunächst konnte sie nichts sagen. Konzentrierte sich ausschließlich darauf, dass der Mann den rechten Arm hinter der Tür
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