Die Kommissarin und der Tote im Fjord
lesen. Aber Sie können uns natürlich auch anrufen oder eine E-Mail schicken. In jedem Fall rate ich Ihnen, zu unserem Informationstreffen zu kommen. Da lernen Sie auch andere Patienten kennen, die in der gleichen Situation sind, und Sie können so viele Fragen stellen, wie sie wollen.«
Das ist das Weihnachtsgeschenk dieses Jahr, dachte Lena, als sie wie schlafwandelnd zu ihrem Wagen ging.
Sie war noch ganz benommen. Die Luft war zäh und leistete Widerstand. Es fühlte sich an, als würde sie sich in Gelee bewegen.
Sie schloss den Wagen auf und fiel mehr hinein, als dass sie sich setzte.
Als sie das Knöllchen hinter dem Scheibenwischer sah, fluchte sie laut.
Sie öffnete die Fahrertür und riss den gelben Zettel an sich. Versuchte, ihn in kleine Stücke zu reißen. Aber der Zettel war aus irgendeinem Plastikmaterial, dass sich nicht zerreißen ließ.Sie warf ihn in den schmutzigen Schnee und trat darauf herum.
Schließlich spuckte sie voller Wut auch noch darauf.
Eine ältere Frau blieb auf dem Bürgersteig stehen und betrachtete sie.
Lena nahm sich zusammen und setzte sich wieder ins Auto.
Die Frau in dem dunklen Mantel ging weiter.
Lena saß apathisch da und starrte vor sich hin.
Ihr Handy klingelte auf dem Beifahrersitz.
Sie griff danach und hielt es ans Ohr. »Ja?«, sagte sie mit belegter Stimme.
Es war ihre Mutter. »Hei Lena. Du, ich bin grade dabei, Geschenke zu kaufen. Du musst mir bald sagen, was du dir zu Weihnachten wünschst«, sagte die Mutter.
Lena war nicht in der Stimmung, mit ihr zu reden. Mit niemandem. Nicht jetzt. »Ich muss dich später zurückrufen, Mama. Hab hier grad zu viel zu tun.« Sie unterbrach die Verbindung und schaltete das Handy aus.
Langsam fuhr sie vom Krankenhausgelände und bog zur Vestre Aker Kirche ab. Der Wagen kletterte den Berg hinauf, und Lena registrierte, dass keine anderen Autos vor dem Eingang standen. Sie hielt an und betrachtete die Baumkronen, die ihre nackten Zweige in den Himmel reckten. Aber eigentlich sah sie nichts. Sie dachte nichts. Als die Kälte in das Wageninnere eindrang, öffnete sie die Tür und stieg aus.
Der Schnee lag ganz weiß zwischen den Gräbern. Der Schmutz von Verkehr und Abgasen drang nicht bis hierhin vor.
Ein schmaler Pfad war den Berg hinunter bis zur Pforte am Blindernveien frei geschaufelt. Sie ging langsam hinunter. Stieg über den Schneewall und watete bis fast zu den Knien im Schnee zwischen den Grabsteinen, die mit steifen Schneehüten aus der weißen Decke hervorragten. Es sah fast so aus, als seien sie mit Schlagsahne garniert.
Sie kniete sich neben einen Stein aus rotem Granit. Schloss die Augen und beschwor das Bild ihres Vaters herauf – so, wie sie ihn in Erinnerung behalten wollte.
Sie kniete mit dem Rücken zur Straße. Wartete. Worauf wartete sie? Auf ein Wunder?
Sie schloss die Augen und ließ die Geräusche um sie herum auf sich wirken: das Lachen der Kinder, die im Kindergarten hinter dem Zaun spielten, das leichte Rauschen des Verkehrs, ein Knallen, als jemand heftig ein Fenster schloss. Das entfernte Dröhnen eines Flugzeugs, das schon vorübergeflogen war, hoch, hoch oben. Sie hörte leise Stimmen auf dem freigeschaufelten Gehweg bei der Kirche.
Die Feuchtigkeit des Schnees drang an ihren Knien durch die Hose. Sie wurde nass, spürte es aber nicht.
Sie hatte kein Taschentuch dabei. Also nahm sie die Hände und wischte sich mit den Fingern über beide Wangen, in einem kläglichen Versuch, die Tränen zu trocknen. Holte tief Atem und erhob sich.
In diesem Moment gab es direkt hinter ihr einen lauten Knall. Sie sank auf die Knie.
Glas splitterte.
Sie drehte sich um hundertachtzig Grad.
Ein schwarzer Mercedes hatte sich um einen Laternenpfahl im Blindernveien gewickelt. Aus der Motorhaube stieg Rauch auf.
Lena reagierte per Autopilot. Schon war sie auf dem Weg zum Zaun. Sprang darüber und landete auf dem Schneewall. Sie sprintete auf den Wagen zu, als die Fahrertür des Wagens mit einem knirschenden Laut aufschwang.
Lena blieb abrupt stehen und ahnte das Schlimmste.
Der Türrahmen traf auf den Asphalt. Die Aufhängung musste gerissen sein.
Ein Schuh und ein Hosenbein zeigten sich in der Türöffnung.
Noch ein Schuh und noch ein Hosenbein.
Ein junger Mann hievte sich aus dem Wagen – offensichtlich völlig unverletzt. Der Mann trug einen blauen Blazer und helle Jeans.
Er stand da und bürstete sich die Jacke und die Jeans ab. Dann warf er Lena einen resignierten Blick zu und sagte:
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