Die Komplizin - Roman
diejenige, die gerade voller Angst aus dem Polizeirevier gewankt war –, sondern die Bonnie Graham aus der Zeit davor bleiben, sorglos und vom Schicksal verschont. In dem Moment sah ich sein Gesicht.
Fast eine halbe Titelseite groß, starrte es mir vom Zeitungskiosk entgegen. Darüber prangte die Schlagzeile: »Tod auf der Überholspur«. Es war nicht das Foto, das die Zeitungen bisher immer verwendet hatten, sondern allem Anschein nach ein älteres. Zumindest sah er darauf ein paar Jahre jünger aus, trug das Haar lang und hatte so stoppelige Wangen, dass man fast schon von einem Bart sprechen konnte. Er lächelte in die Kamera und hob dabei leicht die Augenbrauen, was ihm einen halb fragenden, halb süffisanten Ausdruck verlieh, als teilte er mit der Person hinter der Kamera ein Geheimnis. Mich hatte er auch so angesehen – als würde er mich verstehen und in mir eine verwandte Seele erkennen –, und Sally ebenfalls. Wen noch? Bestimmt Hunderte von Frauen, die zwar wussten, dass man sich auf ihn nicht verlassen konnte, seinem Charme aber trotzdem erlagen. Dann hatte ihn eines Tages jemand getötet. War es vielleicht doch ein Fremder gewesen? Oder eine Person, die ihn kannte? Eine Person, die ihn hasste oder liebte – oder die ihn hasste, weil sie ihn liebte?
Ich sagte mir, dass ich die Zeitung nicht kaufen würde, doch ehe ich es mich versah, zählte ich das Geld ab, nahm die Zeitung entgegen und versuchte im Gehen die Titelseite zu lesen. Die Bildunterschrift forderte mich auf, bis Seite sieben weiterzublättern. Im ersten Café, das mir unterkam, machte ich halt und bestellte mir einen Cappuccino und ein Stück Karottenkuchen. Ich brauchte ganz dringend eine Dosis Kohlenhydrate und Zucker. Erst nachdem ich den halben Kuchen verdrückt und ein paar große Schlucke von meinem Kaffee getrunken hatte, nahm ich mir Seite sieben vor, wo mir ein weiteres Foto ins Auge sprang: Es zeigte einen viel jüngeren Hayden, Arm in Arm mit einer Frau, die vor Glück regelrecht strahlte. Sie hatte eine zierliche Figur, eine dichte Mähne kastanienbraunen Haars und einen breiten, lächelnden Mund. Der Bildunterschrift zufolge hieß sie Hannah Booth.
Ich schloss einen Moment die Augen, doch als ich sie wieder
aufschlug, war die Frau immer noch da. Irgendwie gefiel sie mir. In einem anderen Leben hätte ich mir vorstellen können, sie zur Freundin zu haben. Ich warf erneut einen Blick auf die Bildunterschrift. Demnach war das Foto 2002 aufgenommen worden. Hayden musste damals um die dreißig gewesen sein. Sein Gesicht wirkte schmäler und weicher als das, das ich gekannt hatte, vielleicht auch glücklicher. Oder lag es einfach daran, dass er seine Frau im Arm hielt? Warum überraschte mich das so? Warum spürte ich plötzlich diesen Schmerz in der Brust und dieses Brennen in den Augen?
Ich überflog die Geschichte, indem ich den Blick von Absatz zu Absatz springen ließ. Der Anfang des Artikels bestand größtenteils aus einer etwas schwülstig geschriebenen Wiederholung dessen, was bereits durch die Presse gegangen war: talentierter Musiker, mysteriöser Tod, schockierte Freunde, Leichenfund im Stausee, Polizei auf Spurensuche. Im Mittelpunkt aber stand das Interview mit Hannah Booth, die dem Reporter erzählt hatte, wie traurig sie über die Ermordung ihres Mannes sei (»auch wenn ich schon immer damit gerechnet habe, dass er jung sterben würde«), wobei sie allerdings bereits seit längerem getrennt gelebt hätten. Getrennt – ich klammerte mich an das Wort und ließ mich davon ein wenig trösten, bis mein Blick an einem anderen Wort hängen blieb: »Kind«. Plötzlich war mir, als hätte mir jemand einen heftigen Schlag in die Magengrube verpasst. Hayden hatte ein Kind gehabt, einen Sohn, der gerade mal sechseinhalb war und »seinen Daddy« vor ein paar Monaten zum letzten Mal gesehen hatte. Sein Name lautete Josiah. Hayden hatte Hannah und Josiah bereits vor vier Jahren verlassen, als sein Sohn noch ein Kleinkind war. Hannah Booth schilderte, wie es mit ihrer Ehe, die so hoffnungsvoll begonnen hatte, zunehmend bergab gegangen war. »Ich glaube, Hayden wusste einfach nicht, was Zufriedenheit ist«, erklärte sie. »Diese Art von Solidität war ihm seit jeher fremd. Meiner Meinung nach hat er
sich das, was wir gemeinsam besaßen, durch seine ehrgeizigen Ziele und Träume kaputt machen lassen. Außerdem kam er mit dem Älterwerden nicht zurecht. Tief in seinem Herzen ist er immer ein Kind geblieben, ein
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