Die Komplizin - Roman
großes, liebenswertes Kind. Aber mit einem Kind kann man nicht verheiratet sein – insbesondere, wenn man selbst Nachwuchs in die Welt setzt.«
Ich legte die Zeitung für eine Weile beiseite und trank meinen Cappuccino aus. Dabei bemühte ich mich ganz bewusst, kleine Schlucke zu nehmen und mich ganz auf die milchige Süße unter dem Schaum zu konzentrieren. Mir gegenüber hatte Hayden behauptet, er wolle niemals Vater werden. Dabei war er die ganze Zeit einer gewesen. Zu mir hatte er gesagt, er wolle sich nie festbinden lassen. Trotzdem war er verheiratet gewesen. Zwar mit einer Frau, die er nie sah, aber dennoch verheiratet. Sie hatte sogar seinen Namen angenommen. Warum hatte er mir das nicht erzählt? Dann musste ich an seine hastige, dringende Nachricht denken, meinen letzten Kontakt mit ihm – was hatte er mir sagen wollen?
Als ich mich wieder dem Artikel zuwandte, las ich von seiner Mutter, der zufolge Hayden ein ungezogener Junge und ein schwieriger Mann gewesen war. Nein, mit seinem Lebensstil sei sie nicht einverstanden gewesen, aber eine Mutter sollte trotzdem niemals gezwungen sein, eines ihrer Kinder zu Grabe zu tragen. Laut seiner drei Jahre älteren Schwester hatte er große Lebenslust verspürt. Sein enger Freund Mac war völlig am Boden zerstört: Er hatte ihn etwa eine Woche vor seinem Tod noch gesehen und den Eindruck gehabt, dass Hayden recht aufgedreht und glücklich war, erfüllt von neuer Lebensfreude. Ich aber hatte von der Existenz all dieser Leute nicht das Geringste geahnt. Natürlich war mir klar gewesen, dass Hayden eine Vergangenheit besaß, zu der Freunde, Beziehungen und komplizierte Verwicklungen gehörten – aber erst jetzt begriff ich, welch winzigen Teil seines Lebens ich eingenommen und wie wenig er mir anvertraut hatte. Es schien, als
hätte er nur in einer fortwährenden Gegenwart leben können und alles ausgeblendet, was zuvor war oder danach noch kommen würde.
Ich faltete die Zeitung so zusammen, dass ich sein Gesicht nicht mehr sehen musste. Er hinterließ eine Mutter und eine Schwester, eine verlassene Ehefrau, einen Sohn und enge Freunde, denen er fehlen würde. Vermutlich hatte er sich im Lauf der Zeit auch Dutzende von Feinden gemacht: Leute, die ihm den Tod gewünscht hatten – so, wie es auch die meisten Mitglieder unserer Band hin und wieder mal taten, ich selbst nicht ausgenommen. Mehrmals hatte ich mich bei dem Wunsch ertappt, er möge, wenn schon nicht tot, dann zumindest nicht existent sein, spurlos aus meinem Bewusstsein getilgt, so dass ich nicht nur ihn vergessen könnte, sondern auch die Person, die ich in seiner Gegenwart war.
Als ich ging, ließ ich die Zeitung auf dem Tisch liegen und machte mich auf den Heimweg, ohne irgendetwas um mich herum wahrzunehmen. Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte, wenn ich wieder zu Hause war.
Sally lag wie ein Häufchen Elend auf meinem Sofa und weinte. Der Rock war ihr bis über die Knie hochgerutscht, die Bluse verknittert und ebenfalls hochgeschoben. Das Haar hing ihr ins Gesicht und klebte an ihren nassen Wangen. Noch nie hatte ich jemanden so heftig weinen sehen, außer vielleicht meine Mutter an ihren schlimmsten Tagen. Der Kummer schien von ihrem ganzen Körper Besitz ergriffen zu haben: Schluchzend rang sie nach Luft, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Hin und wieder stieß sie Töne aus, die halb nach Gewimmer, halb nach Schluckauf klangen, weil sie gar nicht genug Luft bekam, um irgendetwas Verständliches hervorzubringen. Ihr Weinen erinnerte eher an einen unkontrollierbaren Würgeanfall, als wollte sie ihren ganzen Kummer aus sich herauskotzen. Die ganze Zeit über stand Lola neben ihr und streckte ein
paarmal zögernd die Hand aus, um vorsichtig Sallys Schulter oder Bauch anzustupsen.
Die Kleine wirkte nicht allzu bekümmert, eher neugierig und ein wenig nervös. »Mummy?«, fragte sie ab und zu, woraufhin Sally nur noch lauter heulte. Anfangs versuchte ich sie zu beruhigen, indem ich mich neben sie kauerte und eine Hand auf ihren zuckenden Körper legte oder ihr fürsorglich den Rotz und die Tränen von den Wangen wischte, aber nach einer Weile gab ich auf und konzentrierte mich stattdessen auf Lola.
»Möchtest du einen Keks?« Sie starrte mich an. »Oder Saft? Ach, nein, tut mir leid, ich habe gar keinen Saft, aber dafür Milch. Glaube ich zumindest. Oder vielleicht…« Ich überlegte. Worauf hatte ein kleines Mädchen wie Lola wohl Lust? »Du könntest
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