Die Komplizin - Roman
irgendeinem schlimmen Unfall, der in den frühen Morgenstunden auf der M6 passiert war und eine ganze Familie das Leben gekostet hatte. Sonia erteilte den anderen Anweisungen und brachte wie durch ein Wunder ein wenig Ordnung in den Raum. Amos stieß sich immer wieder fluchend die Schienbeine an. Ich musste an die Nachricht von Hayden denken, die inzwischen in meiner Unterwäscheschublade lag. Was hatte er mir so Dringendes zu sagen, und warum zog ich überhaupt in Erwägung, zu ihm zu gehen und es mir anzuhören? Wenn ich mich noch einmal mit ihm traf,
konnte ich ihm sagen, dass ich nie wieder etwas von ihm hören oder sehen wolle und er aus der Gruppe aussteigen müsse. Allerdings würde ich dann auch sein schuldbewusstes Gesicht sehen – und bestimmt würde er leidenschaftliche, entschuldigende Worte finden, woraufhin ich womöglich wieder… nein, nein, das würde ich nicht. Natürlich nicht. Nie wieder. Ich hasste ihn. Hayden war ein Mann, der Frauen schlug. Ein Mann, der Frauen verließ, ohne sich noch einmal nach ihnen umzusehen. Ich hasste ihn. Und wie ich ihn hasste!
»Bonnie?«
Obwohl Sonia nur leicht meinen Rücken berührte, empfand ich die Geste trotzdem als sehr tröstlich.
»Du siehst aus, als wärst du gerade ganz weit weg.«
»Entschuldige. Ich war euch keine große Hilfe.«
»Sollen wir dir etwas für deinen Hals bringen, ehe wir anfangen?«
»Meinen Hals?« Instinktiv hob ich die Hand. Schon die leichte Berührung schmerzte. Sah man den Bluterguss? Ich befürchtete, er könnte wie ein Schandmal durch die dicke Schminke hindurchscheinen.
»Irgendwas Beruhigendes – vielleicht Milch mit Honig?«
»Das ist lieb von dir, aber es geht schon. Es klingt schlimmer, als es ist. Außerdem habe ich gar keinen Honig da, und die Milch ist auch alle.«
»Dann legen wir also los?«
Wir begannen mit »Leaving on Your Mind«. Obwohl in mir ein schrecklicher Wirrwarr aus Gedanken und Gefühlen herrschte, wussten meine Finger, was sie zu tun hatten. Als Sonia einsetzte, klang ihre Stimme so überwältigend traurig, dass plötzlich alle im Raum ganz ergriffen wirkten, sogar Amos in seinen bunten Sommerklamotten. Ich sah, wie er Sonia anstarrte, während sie sang. Wie immer hatte sie die Handflächen nach vorn gedreht und den Kopf leicht in den Nacken gelegt.
»Das können wir nicht bringen«, stellte ich fest, nachdem der letzte Ton verklungen war. »Wir können das unmöglich auf einer Hochzeit spielen. Es ist ein Klagelied.«
»Darüber haben wir doch schon des Langen und Breiten diskutiert«, entgegnete Amos.
»Aber so traurig hat Sonia es noch nie gesungen. Alle werden in Tränen ausbrechen.«
»Das ist doch gut«, meinte Joakim.
»Was? Wenn bei einer Hochzeit alle heulen?«
»Das ist bei Hochzeiten doch immer so, zumindest im Film. Man kann erst dann von einer wirklich geglückten Feier sprechen, wenn alle sich die Augen ausweinen.«
»Allerdings weinen sie in der Regel nicht, weil sie schon an das Ende der Beziehung denken«, wandte Guy ein, »sondern weil sie glücklich sind.«
»Nein, sie weinen, weil sie von starken Gefühlen erfüllt sind«, widersprach Neal. »Begriffe wie ›Glück‹ oder ›Trauer‹ passen da nicht.«
»Außerdem ist es sowieso zu spät«, meinte Sonia, wie immer pragmatisch. »Dieser Song ist so ziemlich der einzige, den wir alle richtig gut beherrschen.«
»Da hast du vermutlich recht«, pflichtete ich ihr bei, »auch wenn ich nicht weiß, was Danielle davon halten wird.«
»Wen interessiert schon, was die davon hält?« Obwohl Joakim Danielle gar nicht persönlich kannte, hatte er offenbar beschlossen, sie aus Prinzip nicht zu mögen.
»Es ist schließlich ihre Hochzeit«, sagte Sonia sanft. »Womit machen wir weiter?«
In dem Moment läutete das Telefon. Alle Blicke richteten sich auf mich.
»Willst du nicht rangehen?«, fragte Guy schließlich.
»Das hört bestimmt gleich wieder auf.«
Wie aufs Stichwort kehrte Ruhe ein, doch schon nach wenigen Sekunden begann stattdessen mein Handy zu klingeln.
Ich ging hinüber zum Fensterbrett, wo es lag, und schaltete es aus, ohne nachzusehen, wer der Anrufer war. Ich wusste es auch so.
»Entscheidet ihr, was wir als Nächstes spielen wollen«, sagte ich an Sonia gewandt. »Ich bin gleich wieder da.«
Mit diesen Worten ging ich ins Bad und schloss die Tür hinter mir ab. Dann stellte ich mich vor den Spiegel. Wenn man genau hinschaute, konnte man den Bluterguss oberhalb des Kragens ganz leicht durch die
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