Die Komplizin - Roman
ging hinein. Wie beim letzten Mal rechnete ich einen Moment damit, Haydens verwesende Leiche auf dem Boden liegen zu sehen. Ich spürte plötzlich ein so heftiges Brennen in der Brust, dass mir das Atmen richtig wehtat.
»Hallo!«, rief Guy, während er hinter mir die Wohnung betrat. »Hallo? Hayden? Bist du da?«
»Hayden«, wiederholte Joakim wie sein Echo. »Hallo!« Ich schaffte es nicht, seinen Namen zu rufen. Nach allem, was ich getan hatte, wäre es nur ein weiterer kurzer Moment der Heuchelei gewesen, doch ich konnte es einfach nicht. Stattdessen blieb ich nur abwartend stehen oder tat zumindest so, als würde ich warten.
»Hier ist niemand«, stellte ich fest.
»Sehen wir uns mal um«, meinte Guy.
»Wonach denn?« Noch während ich die Worte aussprach, entdeckte ich etwas, das mir fast den Atem raubte. »Vielleicht hat er was zurückgelassen, das uns verrät, wo er hin ist. Damit wir ihn wenigstens anrufen und ausschimpfen können?«
»Ähm … wie?«, fragte ich dümmlich. Ich hatte von seiner Antwort überhaupt nichts mitbekommen, weil dort drüben, ganz lässig über den Stuhl neben der Wand drapiert, meine hellgraue Baumwolljacke hing. Von einer Sekunde auf die andere ergriff eine Art Wahnsinn von mir Besitz. Zumindest stelle ich mir vor, dass Wahnsinn sich so anfühlt: wenn es plötzlich keinerlei Übereinstimmung mehr gibt, keinen echten Zusammenhang von Ursache und Wirkung zwischen innerer und äußerer Welt. Ich begriff nicht, was da ablief. Erst wurden mir etliche Sachen, die ich in der Wohnung zurückgelassen hatte, in einem Päckchen nach Hause geschickt, und nun hing hier dieses Kleidungsstück als belastendes Indiz für jeden sichtbar in der Wohnung. Wer tat mir das an? Und warum? Es dauerte noch ein paar lange Sekunden, bis mir klar wurde, dass ich selbst die Jacke dort über den Stuhl gehängt hatte. Ich zwang mich, mich zu konzentrieren, und konnte mich daraufhin wieder genau entsinnen, wie ich die Jacke ausgezogen hatte, ehe ich Sonia beim Aufräumen half. Dann fiel mir auch wieder ein – soweit es überhaupt möglich ist, sich an etwas Fehlendes zu erinnern –, dass ich die Jacke vor dem Verlassen der Wohnung nicht wieder angezogen hatte. Zumindest wusste ich nicht mehr, dass ich sie übergezogen hatte, und den Rest der Nacht hatte ich sie definitiv nicht getragen. Das Merkwürdige an der Sache war nur, dass ich nach jenem Abend noch einmal in die Wohnung zurückgekehrt war und die Jacke trotzdem nicht gesehen hatte. Legte ich es vielleicht darauf an, überführt zu werden?
Währenddessen wanderten Guy und Joakim durch die Wohnung, die in Wirklichkeit eine von mir und Sonia arrangierte Theaterkulisse war. Guy begutachtete gerade die Post, die unterhalb des Briefschlitzes auf dem Boden lag. Mit argwöhnischer Miene blätterte er sie durch.
»Das ist alles nicht für Hayden«, verkündete er.
»Ich glaube nicht, dass ein Typ wie er viel Post bekommt«, meinte Joakim.
»Jeder bekommt Post.«
Ich hätte gerne irgendetwas Normales, Unverfängliches zu dem Thema gesagt, doch mir fiel beim besten Willen nichts ein.
»Ich bekomme keine«, entgegnete Joakim.
»Ich habe gemeint, jeder Erwachsene – aber vielleicht zählt Hayden nicht als Erwachsener.«
Ich musste mich zwingen, nicht dauernd auf die Jacke zu starren. Stattdessen heuchelte ich Interesse für irgendwelche Gegenstände, die ich selbst an die betreffenden Stellen gestellt hatte.
»Die Küche«, stieß ich plötzlich hervor.
»Was?«
»Meint ihr, es bringt etwas, wenn ihr euch da mal umseht?«, fragte ich an Guy gewandt. »Viele Leute haben dort Listen. Sie notieren alles, was zu erledigen ist, auf irgendwelchen Zetteln, die sie dann mit einem Magneten an den Kühlschrank hängen.«
Das klang sogar in meinen eigenen Ohren nach einer äußerst schwachen Theorie. Kein Wunder, dass Guy skeptisch dreinblickte. Ich zwang mich, in lässigerem Tonfall weiterzusprechen.
»Bei der Gelegenheit könntet ihr auch gleich mal checken, was er im Kühlschrank hat.«
Selbst der Gebrauch des Präsens kostete mich Kraft. »Hat«, nicht »hatte«. Im Gegensatz zu mir gingen Joakim und Guy davon aus, dass Hayden gerade irgendwo anders irgendetwas tat. Oder womöglich im nächsten Moment zur Tür hereinkam. Deswegen waren sie noch in der Lage, sich auf eine Weise über ihn zu ärgern oder zu wundern, wie man es nicht mehr kann, sobald jemand tot ist. Einen Toten kann man immer noch hassen oder lieben oder zumindest betrauern,
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