Die Konkubine des Erzbischofs
er war sich nicht mehr so sicher, ob Gott die Hand schützend über ihn halten würde.
Am Steynweg angelangt, schlug Isfried ein Kreuz und bedankte sich beim Herrn. Der Steynweg war breiter und hier trieb sich noch einiges Gesindel herum. Im ersten Augenblick beruhigte ihn das. Er fühlte sich nicht mehr allein und hilflos. Dann begann Isfried allerdings, sich vor jedem, dem er begegnete, zu fürchten. Blitzte nur ein Fetzen roten Stoffes auf, so vermeinte er, der Dolch werde ihm ins Herz gerammt. Er fasste sich an die Stelle, wo er den Stoß gefühlt hatte, aber er blutete nicht. Er kniff sich ins Bein. Zweifellos war er am Leben. Wer wollte es ihm nehmen? Der Ratsherr Andreas? Oder hatten ihn seine Sinne getäuscht? Isfried fühlte sich nicht in der Lage, beides zugleich zu tun, nämlich diese Frage zu ergründen und sich behutsam weiter fortzubewegen. Er verschob es auf später, darüber nachzudenken, wer ihn bedroht hatte. Wohlbehalten gelangte er an die Ecke zur Oben Marspforten und wusste nun, dass er gleich Brunos Haus erreicht haben würde. Die Oben Marspforten freilich war eng und düster.
Isfried beschloss, das letzte Stück zu rennen. Dann würde er sogleich zu Hause sein und überdies die Angst nicht spüren. Morgen würde er die Belohnung erhalten. Isfried freute sich bei diesem Gedanken. Das Schicksal meinte es gut mit ihm. Wenn ich mich dann später an den scharlachroten Mann erinnere, werde ich wissen, dass dies nur eine kleine Prüfung durch den Herrn war, ging es Isfried durch den Kopf.
Es drang kaum in sein Bewusstsein, dass der scharlachrote Mann offensichtlich schneller als er gewesen war, hinter einem Mauervorsprung hervortrat und diesmal nicht zögerte, ihm den Dolch direkt dorthin zu rammen, wo Isfried es vorhin schon zu fühlen vermeint hatte.
K A P I T E L I I
»Alles Unvollkommene strebt zur Vollendung.«
Thomas von Aquin
Ich zitterte ein wenig, als ich hinter den sich leicht von einem Windhauch bewegten Vorhang schlüpfte, weil Ingeborg es mir nämlich diesmal verboten hatte. Sonst ließ sie mich zusehen, nachdem sie festgestellt hatte, dass ich solcherart mehr Freude empfand als daran, es selbst zu tun. In einer Art unausgesprochenem Einverständnis verheimlichten wir es meinem Lehrmeister, dem sarazenischen Gelehrten Averom, in dessen Obhut ich mich seit nunmehr sieben Jahren befand und mit dem ich seit zwei Jahren in Paris an der Universität weilte. Meister Arab, wie ich ihn zärtlich nannte, war Ingeborg zugetan und bezahlte sie dafür, mich in anderer Hinsicht zu unterrichten. Dass Ingeborg aus dem fernen Königreich Dänemark in den kalten Landen herkam, deutete schon ihr Name an, doch ihre fast durchsichtige Haut, ihre hellblauen Augen und ihr silbern schimmerndes, feines Haar machten es zur Gewissheit. Sie stammte aus gutem Hause und war entlaufen, als ihr Vater sie mit einem Grafen zu vermählen beabsichtigte, den sie als vertrocknet, grob und einfältig beschrieb. Fortan führte sie ein wildes Leben im Gefolge von Fahrensleuten und Burgsängern. In Luik, wo sie einige Zeit verbrachte, bevor sie, als sie ungefähr fünfundzwanzig Jahre zählte, nach Paris kam, entdeckte sie die Berufung zu dem Gewerbe, dem sie von da an nachging. Sie war größer als viele der Männer in Paris, ausgenommen die nordischen Studenten, und ihre Schönheit wäre vollendet gewesen, wären ihre Brüste ein wenig bescheidener und ihre Hüften etwas unbescheidener gewesen.
Ingeborg ging ihrem Geschäft in einem ehemaligen Heuspeicher auf der Rue du Fouarre nach. Der Heuspeicher war zum Schulraum der Artistenfakultät hergerichtet worden, um Studenten aus der ganzen Welt in die Sieben Freien Künste der Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie einzuführen. Man meinte, in dem Raume noch das süße Heu zu riechen, obgleich der herbe Duft des harzigen Holzes, aus dem die erst jüngst aufgestellten Bänke waren, überwog.
Die großen Magister Siger von Brabant und Roger Bacon hatten hier schon gelehrt, noch bevor es die Bänke gab und die Studenten statt dessen im Heu saßen, um ihren überaus weisen Worten zu lauschten. Später polterte ein anderer bedeutender Magister von Paris, Bruder Thomas von Aquin, vor uns Studenten: »Mein Widersacher Siger betreibt seine Lehre im Verborgenen, anstatt sich wie üblich der klösterlichen Einrichtungen zu bedienen.« Meister Arab, der Bruder Thomas fast mehr noch als Magister Siger schätzte, verübelte ihm das, vor allem,
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