Die Konkubine
deine und meine Mutter uns lehrten? Dies ist die Stunde der Frauen. Sie haben dich geschunden, sie haben dir Angst eingejagt, jetzt naht die Stunde der Vergeltung. Wie bist du eigentlich in diese Kirche gekommen? Du hast mir nie davon erzählt. Was ist mit dir geschehen, bis wir uns in Beijing wiedertrafen?»
«A-Ting und ich lebten in Jinan, in einer kleinen Kammer. Meine Eltern waren – tot. Das Haus Song existierte nicht mehr. Und du – du warst verschwunden, im Haus deiner Eltern wohnten andere Leute. Es hieß, deine Familie sei fortgezogen. Aber das habe ich dir ja schon erzählt.»
«Ja, Meimei, auch meine Familie hatte Angst, zusammen mit den Reformern zur Verantwortung gezogen zu werden, obwohl wir nicht direkt an der Wuxu-Reform beteiligt waren. Doch ich war die Verlobte von Song Gan, deinem Bruder. Damals sind wir zu Yuan Shikai gegangen und haben um Hilfe gebeten. Mein Vater kannte ihn gut. Yuan hat mich dann nach Beijing geschickt. Vater und Mutter sind kurz darauf vor Kummer gestorben. Das geschah alles, nachdem du verschwunden warst, um den Körper deines Bruders, meines Verlobten zurückzuholen. Ich hinterließ dir eine Nachricht. Hast du sie denn nicht bekommen?»
Mulan schüttelte den Kopf. «Erst viele Monde später. Niemand wollte etwas mit mir und A-Ting zu tun haben. Ich habe mich furchtbar geängstigt, als die Unruhen ausbrachen. Wir hörten die schrecklichsten Sachen. Die einen sagten, die Yihetuan seien Monster, die jeden töteten, der ihnen über den Weg lief. Die anderen, sie würden nur die Fremden angreifen, um sie aus dem Land zu treiben. Es war furchtbar, ich dachte, wir überleben diese Tage nicht. A-Ting machte mir Mut. Ja, und dann, eines Nachts, klopfte heimlich die Nachbarstochter an die Tür. Du weißt doch, die, mit der wir als kleine Mädchen immer gespielt haben. Sie hatte ebenso große Angst, bei den Aufständen getötet zu werden, und wollte ihr Gewissen erleichtern. Sie übergab mir deine Nachricht, und ich erfuhr, dass du in Beijing bist. Da sind A-Ting und ich aufgebrochen, um dich zu suchen. Du warst ja die einzige Freundin, die ich noch hatte.»
«Wie unvorsichtig von dir! Warum hast du nicht auch an die Türe von Yuan Shikais Haus geklopft? Er war doch damals Gouverneur von Shandong und residierte in Jinan. Dein Vater kannte ihn auch. Er hätte dir sicher geholfen.»
«Ich weiß, aber ich wagte es nicht. Außerdem hatte ich eine übermächtige Sehnsucht nach dir, ich träumte davon, endlich wieder mit einem vertrauten Menschen zu sprechen, mich mit dir gemeinsam an vergangene Zeiten zu erinnern. Ich träumte davon, dass wir uns gegenseitig Trost spenden könnten. Diese Sehnsucht war stärker als mein Verstand.»
Erneut schlug Meili der Freundin mit dem Fächer auf den Arm. «Ach Meimei, manchmal machst du aber auch wirklich dumme Sachen. Du bist wie Yang Zis Nachbar, der nicht wusste, an welcher der vielen Weggabelungen er sein Schaf verloren hat. Und gleichzeitig würdest du dich wie der Kreisbeamte Tao Yuanming nicht für fünf Scheffel Reis verbeugen. Aber ich erzähle hier Geschichten wie früher meine Amah. Sag, was ist mit dir dann geschehen? Du bist mir immer ausgewichen, wenn ich dich fragte, was du erlebt hast, bis ich dich in Beijing wiederfand.»
«Ich – ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich habe niemals wieder darüber gesprochen. Auch nicht mit A-Ting. Ohne sie hätte ich ebenfalls nicht überlebt.»
«Du musst jetzt wieder kämpfen, Magnolienblüte, meine Schwester. Du musst. Haben wir uns nicht als Kinder geschworen, alles miteinander zu teilen, bis wir in das Haus unseres Gatten gehen würden? Es ist anders gekommen, der Himmel hatte für uns eine andere Aufgabe vorgesehen. Du trägst ein Kind in dir. Es ist auch seine Zukunft, um die es geht. Kämpfe für dein Kind. Was ist geschehen?»
Mulan legte die Hand auf ihren Bauch. «Bitte Meili, meine Freundin, erlass es mir. Vielleicht kann ich in einigen Jahren darüber sprechen. Vielleicht kann ich einmal meinem Sohn diese Geschichte erzählen oder meiner Tochter, falls ich die Geburt überlebe. Mein Herr Liu hat von mir verlangt, dass ich mich mit einem der Langnasen treffe, einem Soldaten, und ihn aushorche. Ich habe mich geweigert. Und seit er weiß, dass ich ein Kind erwarte, will er mich auch nicht mehr dazu zwingen. Ich kann das doch nicht tun! Wie soll ich das ertragen? Du sagst nun, ich habe eine Schuld abzutragen. Keine der Frauen in meiner Familie hat so etwas getan! Solange sie
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