Die Konkubine
das Gefühl bekam, dem Kern jener Realität näher zu kommen, in der Huimin lebte, entdeckte er eine neue Schicht.
Realität, das hatte er in diesen Wochen und Monaten begriffen, war nicht etwas, das aus sich heraus existierte, objektiv und unwandelbar war. Ein Regentropfen war ein Regentropfen? Ein Baum war ein Baum? Auch in China? Ja, natürlich. Aber was für einer? Das änderte sich je nachdem, ob dieser Baum für seinen Betrachter nützlich war oder nicht, ob dieser ihn schön fand oder nicht, ob er ihn als heilig betrachtete oder als Feuerholz.
Die Deutschen ihrerseits taten für einen Chinesen unerklärliche Dinge. Sie leiteten die Fäkalien über ihre neue Kanalisation ins Meer und waren sehr stolz auf ihre Tüchtigkeit, die diese Einrichtung geschaffen hatte, auf ihr überlegenes technisches Wissen, das ihnen half, den Nutzen solcher Einrichtungen wie Abwasserkanäle beurteilen zu können. In vieler Hinsicht lebten die Menschen in den Dörfern hier nach Meinung der Europäer noch im Mittelalter.
In China hatten die Menschen die Exkremente hingegen schon immer genutzt, um die Felder zu düngen. Für einen Chinesen war die westliche Art mit Ausscheidungen umzugehen, als würfe man Gold ins Meer.
Konrad fasste sich ein Herz. Was konnte er schon tun, außer Fragen zu stellen, wenn er jemals verstehen wollte? Ihm fiel jedenfalls nichts anderes ein. Außer der Musik. Er erinnerte sich an den Tag im Hause Liu. Mit ihr hatte er offenbar einen Weg gefunden, diesen so fremden Menschen näher zu kommen.
«Sag mir, was ist mit dieser Frau Mulan geschehen? Ist sie immer so eingeschüchtert?»
«Du hast sie gerettet, aber jetzt solltest du sie vergessen, Konrad. Sie gehört einem anderen.»
Er hatte Tang noch nie so schroff erlebt. «Ich weiß, aber darum geht es doch nicht. Es ist nur…»
Er brach ab, er wusste schließlich selbst nicht so recht, worum es denn ging.
«Ich weiß nicht, was mit ihr ist.»
«Ich habe gehört, sie erwartet ein Kind, ist es das?»
Huimins Ablehnung war nun deutlich zu spüren. Konrad kam sich vor wie ein Tölpel. Er hätte es wissen müssen. Persönliche Angelegenheiten waren tabu, insbesondere solch ein Thema. Er würde nicht mehr erfahren. Huimin war ohnehin außergewöhnlich offen im Vergleich zu den Chinesen, die er sonst kennengelernt hatte. In diesem Moment fiel ihm auf, dass er noch nicht einmal wusste, ob Tang Huimin verheiratet war und Kinder hatte. Wahrscheinlich. Chinesen heirateten früh. Aber beim Besuch im Haus seines Vaters war nicht von einer Frau die Rede gewesen.
«Hast du Söhne? Ich weiß, dass es bei euch sehr wichtig ist, viele Söhne zu haben», erkundigte sich Konrad.
Der Freund zögerte. «Nein, ich war fort. Zur Ausbildung in Japan», erklärte er reserviert.
Er wollte also nicht über seine persönlichen Verhältnisse sprechen. Er fragte besser nicht so direkt weiter. «Interessant. Gehen viele junge Chinesen nach Japan, um sich ausbilden zu lassen?»
«Ja, einige.»
«Söhne sind für einen chinesischen Mann sehr wichtig, nicht wahr?»
«Bei euch in Deutschland vielleicht nicht?», erkundigte sich Huimin erstaunt. «Söhne zu haben ist doch das Wichtigste überhaupt. Söhne, die ihre alten Eltern später einmal unterstützen, Söhne, die das Lebenswerk ihres Vaters fortführen. Wer sonst sollte später einmal die Ahnen ehren, auch den Vater, wenn er die Welt verlassen hat?»
Konrad nickte. «Doch, Söhne sind auch bei uns wichtig. Aus ähnlichen Gründen, vielleicht, weil sie für einen Mann eine Form der Unsterblichkeit bedeuten. Aber die Dinge ändern sich. Es gibt bei uns Frauen, die auf der Suche nach einem eigenen Selbstbewusstsein sind, einem, das nicht von einem Mann abhängt. Viele Männer spotten über solche Frauen. Ich glaube jedoch, sie sind in gewissem Sinne unsere Zukunft.»
«Frauen, die nicht von einem Mann abhängen, nicht zu ihm gehören? Wie soll das gehen? Erst in der Vereinigung der Gegensätze, des Yin und des Yang, entstehen Vollkommenheit und Harmonie. Der Mann ist die starke, die helle Kraft, die Frau die dunkle, hingebende. So ist es eingerichtet. Aber auch in China gibt es Stimmen, die sagen, Frauen müssten in der Gesellschaft besser gestellt werden. Einer davon ist der Reformer Kang Youwei. Vielleicht hat er recht. Ich glaube, mein Vater hält nicht viel von solchen Ideen.»
«Weißt du eigentlich, dass es bei uns die Sonne heißt und der Mond? Dass die Sonne weiblich ist und der Mond, das Gestirn der Dunkelheit,
Weitere Kostenlose Bücher