Die Korallentaucherin
Welt, die innerhalb der ihren existierte und doch von ihr abgetrennt war. Die Welt der Natur, der Pflanzen und Tiere, ihrer Abhängigkeit von der Umwelt, ihrer Überlebensstrategien, ihrer Hingabe an den Schutz und den Erhalt ihrer Spezies. Neben dem Vieh, den Hunden, den großen Weiden und dem fernen Stausee gab es jenseits ihrer Hintertür eine andere Welt, die von Leben wimmelte.
Auf einer dieser Expeditionen, auf denen sie im Gehen oder Sitzen den Blick auf den Boden zu richten pflegte, fand sie die Muschel. Ein Beuteldachs hatte an den Wurzeln eines Baums ein Loch gegraben, und dort entdeckte Jennifer etwas Helles im aufgeworfenen Erdreich. Sie hob den vermeintlichen Stein auf, und als sie ihn in den Händen drehte, bemerkte sie die unverkennbare Form einer Muschel. Sie war so in den Stein eingebettet, dass sie ein Teil von ihm zu sein schien. Mit der Fingerspitze zeichnete sie den Rand der Muschel nach, und dort, in der Hitze auf der Weide, unter einem Gummibaum, in dem eine Elster keckerte, hörte sie, zuerst nur schwach, dann in einer alles verschlingenden Woge, das Rauschen des Meeres. Sie schloss die Augen, schloss die Faust um das Fossil und erinnerte sich an den Geruch der salzigen Luft, an die frische Brise auf ihren Wangen, und der Rhythmus des Ozeans erfasste sie wieder. Sie nahm die Muschel mit nach Hause, wusch sie ab und legte sie in den Schuhkarton, in dem sie ihre besonderen Schätze aufbewahrte.
Wenn Jennifer das Haus verließ und für Stunden verschwunden war, dachte ihre Mutter, sie würde ihre Zeit vergeuden und sich vor Arbeit und Schulaufgaben drücken. Wenn sie zurückkam und gefragt wurde, was sie getrieben habe, antwortete sie wenig aufschlussreich: »Nix.«
Es war ihr verboten, zum Stausee zu gehen, obwohl er seicht und schlammig war und das Wasser ihr nicht einmal bis an die Schultern reichte. In der Stimme ihrer Mutter hörte, in ihren Augen erkannte sie eine unausgesprochene Angst vor Gefahren, die von jeglichen Gewässern ausgingen.
Und dann eines Abends, als Jennifer an der Spüle stand und den Abwasch erledigte, kam ihre Mutter hinzu, griff nach einem Küchentuch und begann, das Geschirr abzutrocknen, das gewöhnlich zum Abtropfen stehengelassen wurde.
»Ich muss dir etwas sagen.« Sie schob einen zerknüllten Zipfel des Tuchs in ein Glas und drehte ihn. »Seit … dem Unfall … fällt es mir sehr schwer, die Farm allein zu bewirtschaften.«
»Ich helfe dir! Und Mr.Allen von nebenan kommt auch, um dir Arbeit abzunehmen, Mum.«
»Ich weiß. Aber es reicht nicht. Ich muss an die Zukunft denken. Also, Jennifer, ich habe die Farm verkauft …«
»Aber es ist
unsere
Farm.
Unser
Zuhause …« Tränen traten ihr in die Augen, und sie wandte ihr erschrockenes Gesicht ihrer Mutter zu, die Hände im Seifenwasser um einen Teller gekrallt.
Ihre Mutter hielt den Blick gesenkt und konzentrierte sich auf das Polieren des Glases. »Es ist zu unserem Besten«, sagte sie ergeben. Sie hatte gewusst, dass ihre Tochter schockiert sein würde. Sie kannte ja nichts anderes als die Farm.
»Wo sollen wir wohnen?« Jennifer brach in Tränen aus.
Ihre Mutter legte Glas und Geschirrtuch aus der Hand und strich ihrer Tochter eine hellblonde Haarsträhne von der tränennassen Wange. »Komm, setz dich zu mir. Ich hole dir ein Glas Milch. Wir ziehen in die Stadt. Es wird dir gefallen. Dort hast du dann Freunde ganz in deiner Nähe, kannst ins Kino gehen, zu Fuß zur Schule gehen.«
»Ich will hier nicht weg.«
»Tja, wir ziehen aber fort, und damit basta.«
Christina fiel die ganze Angelegenheit schwer genug, und sie hatte gehofft, Jennifer würde den Umzug als großes Abenteuer betrachten. »Ich muss an unsere Zukunft denken. Dein Vater hat uns ohne irgendwelche Rücklagen verlassen, die Farm wirft nicht genug ab …«
»Dad hat unsere Farm geliebt. Er würde mich nie von hier wegnehmen.«
»Aber er ist nicht hier, oder?« Ihrer Mutter riss der Geduldsfaden. »Ich muss mir Arbeit suchen, um Himmels willen. Arbeit, die Geld einbringt. Weiß der Himmel, was. Wahrscheinlich ende ich als Putzfrau für irgendwelche Leute oder als Verkäuferin in einem Laden. Nur, damit du zur Schule gehen kannst.«
»Ich will nicht zur Schule gehen. Ich will hierbleiben!« Jennifer lief in ihr Zimmer und schlug die Tür zu.
»Mach es doch nicht noch schwieriger, als es schon ist«, rief Christina ihr nach.
Das Thema wurde nicht noch einmal angesprochen. Wie betäubt sah Jennifer ihrer Mutter zu, als sie
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