Die Korallentaucherin
Wild bäumte sie sich auf und warf sich mit schäumender Macht, die alles mitriss, über die Felsen. Sie fiel Roger an, der rückwärts taumelte und hilflos die Arme nach der sich entfernenden Gestalt seines Sohnes ausstreckte, nach ihm griff, sich nach ihm streckte. Beide wurden unter das wirbelnde weiße Wasser gesogen und von dem Felsvorsprung gerissen.
Auch Jennifer hatte die Welle nicht kommen sehen. Sie hatte aufgeblickt, als sie die Stimme ihres Vaters hörte, und dann stand ihre Welt plötzlich kopf. Sie begriff nicht, was geschehen war. Sie schloss vor Schreck die Augen und spürte, wie ihr die Beine unter dem Leib weggerissen wurden. Etwas Hartes stieß gegen ihr Bein, es dröhnte in ihren Ohren.
Schwebte sie? Flog sie? Sie öffnete die Augen. Um sie herum war alles still und ruhig. Sie hing in einer blauen Leere. War das da oben Sonnenlicht? Eine kleine, leuchtend rot und grün gefärbte Gestalt huschte an ihr vorbei. Sie drehte den Kopf. Es war ein wunderschöner kleiner Fisch. Ein sehr emsiger Fisch, der nach unten schoss, wo ein rosa und violett gefärbter Teppich ausgebreitet lag. Allmählich sah sie noch mehr Bewegung, sanftes Wiegen eines langen Colliers aus grünem Seetang, den pulsierenden Tanz einer Gruppe durchscheinender lavendelfarbener Anemonen, die einen still schwebenden, winzigen, orange-schwarzen Fisch bargen.
Ich bin unter Wasser, dachte Jennifer. Ich bin in der Stadt unter dem Meeresspiegel! Sie hatte sich den Priel auf dem Felssprung als verkehrsreiche Straße vorgestellt, die an einen verzauberten Ort führte – und hier lag er vor ihr. Sie hob einen Arm, trat mit dem Bein aus und stellte fest, dass sie sich in dieser merkwürdigen Welt mühelos bewegen konnte. Sie streckte die Arme aus und spürte, wie sie emporgetragen wurde. In dem Blau schimmerten goldene Bögen wie Weizenfelder.
Doch dann schoss eine große schwarze Gestalt auf sie zu und griff in einem Schwall von gurgelnden Blasen nach ihr. Sie spürte, wie sie gepackt und nach oben auf das Licht zu gezerrt wurde. In Panik versuchte sie, sich gegen das, was sie da festhielt, zu wehren, doch plötzlich wurde sie aus der wunderschönen Welt herausgestoßen und durchbrach die Wasseroberfläche des Meeres. Sie sah wässrig verschwommen etwas auf dem Felsvorsprung, einen Mann, der winkte und etwas rief. War es Dad?
Sie wandte sich um und sah, dass sie von einem fremden Mann, der von Kopf bis zu den großen Schwimmflossen in schwarzes Gummi gekleidet war, durchs Wasser geschleift wurde. Nur sein erschrockenes weißes Gesicht war zu sehen. Er sagte irgendetwas. Alles, was sie hörte, war das brausende Meeresbranden an den Felsen. Dann zogen Hände sie aus dem Wasser auf die Felsen, und der fremde Wassermann kletterte hinter ihr hinaus und stolperte über seine großen Schwimmflossenfüße.
»Wir haben sie!« Sie wurde hochgehoben, und der Mann, der auf dem Felsen gestanden hatte, trug sie eilig, immer wieder stolpernd und ausgleitend, zum Strand zurück.
Jennifer wehrte sich. Das ganze Ausmaß des gerade Geschehenen dämmerte ihr allmählich. »Wo ist mein Daddy? Wo ist Teddy? Teddy soll kommen!«
Am Strand wimmelte es von Leuten, doch der Mann ließ sie nicht los, sondern drückte ihr Gesicht an seine Brust und rief zum Strand hinüber: »Ist er okay? Wo ist der Junge?« Und dann lag ihr Vater da im Sand, nass und ohne Hut und Sandalen. Doch er wandte sich um und richtete sich auf, hustete und rieb sich das Gesicht. Der Fremde ließ Jennifer zu Boden gleiten, und sie rannte zu ihrem Vater.
»Daddy …«
Er drückte sie an sich und gab merkwürdige Geräusche von sich, fast wie Weinen, was Jennifer noch nie bei ihm erlebt hatte.
Sie strich ihm mit der Hand über das nasse Haar. »Nicht weinen, Daddy.« Er hielt sie fest, umklammerte sie, und um sie herum standen Leute und starrten sie an. Verlegen drehte sie sich um und rief: »Teddy … Teddy … Wo ist Teddy?«
Wieder griffen Leute nach ihr, zerrten sie weg von ihrem Vater, halfen ihm auf die Beine und führten ihn vom Strand fort. Jennifer riss sich von der Hand des Fremden los, rannte zurück auf den Felsvorsprung und rief: »Teddy … Wo bist du, Teddy?«
Sie fingen sie ein und trugen sie fort. Sie trat um sich und begann zu brüllen: »Teddy soll kommen!«
»Das ist ihr Bruder«, hörte sie jemanden sagen.
Und dann ertönte Sirenengeheul, und noch mehr Menschen waren da, und sie wurde in einen Wagen gesetzt.
Sie waren in einer Arztpraxis. Jennifer saß
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