Die Korallentaucherin
wollte ihren Bruder Teddy zurück. Sie wollte, dass alles wieder so war wie früher.
An diesem Abend kam ihr Vater zu ihr und setzte sich im Dunkeln auf die Bettkante. Er strich ihr Haar zurück und fuhr mit seiner Hand zärtlich über ihre Wange. »Nicht weinen, Jen … Wenn ich etwas ändern könnte, würde ich es tun. Ich werde mir nie verzeihen. Aber du darfst nicht so traurig sein. Du wirst zu einer wunderschönen Prinzessin heranwachsen und in einem Schloss leben und glücklich sein.«
»Mit Teddy?«, schluchzte sie.
»Nein, Jennifer, Teddy wirst du sehr lange nicht sehen.«
»Und du und Mommy, kommt ihr in mein Schloss?«
»Nein. Ich gehe fort, Jen … Ich werde dich vielleicht sehr lange nicht wiedersehen. Du musst ein braves Mädchen sein …« Seine Stimme machte ein seltsames Geräusch in seiner Kehle, und er hörte auf zu reden.
Ein paar Minuten lang schwiegen beide in der Dunkelheit. »Gehst du zu Teddy?«, flüsterte Jennifer. Sie wusste, dass dieses Gespräch ein Geheimnis enthielt, etwas, was sie vor ihrer Mutter verbergen musste.
Ihr Vater drückte ihr die Hand, strich ihr sanft übers Haar, beugte sich dann hinab und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Träum was Schönes, kleine Prinzessin.«
Sie sah ihren Vater nie wieder. Sie erfuhr nie genau, was passiert war. Als Teenager fand sie einen klein zusammengefalteten Zeitungsartikel im Fotoalbum ihrer Mutter, das diese in einer Schublade in ihrem Schlafzimmer aufbewahrte. Es war kein umfangreicher Artikel, doch er zählte trocken und unpersönlich Tatsachen auf. Ein kleines Aluminiumboot war unbemannt in Strandnähe gefunden worden. Ein Fischer wurde vermisst. Das Meer war in jener Nacht ruhig gewesen. Die Polizei ermittelte, denn am Ufer hatte man säuberlich zusammengelegte Männerkleidung gefunden. Nichts wies auf ein Verbrechen hin. Achtzehn Monate zuvor war der Sohn des betreffenden Mannes am selben Strand ertrunken.
Sie legte den Zeitungsausschnitt zurück und wusste instinktiv, dass sie mit ihrer Mutter nicht darüber sprechen konnte. Christina weigerte sich, über ihren Mann oder ihren Sohn zu reden. Wenn Jennifer sie erwähnte, verschloss sich das Gesicht ihrer Mutter vor Schmerz, und sie wandte sich ab. Doch Jennifer sehnte sich danach, über ihren Bruder und ihren Vater reden zu können. Dann waren sie ihr nahe, denn sie hatte Angst, sie zu vergessen, wenn sie nie von ihnen sprach. Deshalb plauderte sie mit ihrem Bruder, als wäre er bei ihr und spielte an ihrer Seite, und schloss ihren Vater an erster Stelle in ihre Gebete ein.
Nach dem »Unfall«, wie der Tod ihres Mannes allgemein bezeichnet wurde, hatte Christina sich wegen des Verkaufs der Farm gequält, doch nachdem sie sich ein Jahr lang mit Hilfe von Nachbarn mit der Bewirtschaftung abgemüht hatte, sah sie ein, dass dies vom finanziellen Standpunkt aus kein gangbarer Weg war. Die Farm war abgelegen und voller Erinnerungen. Christina hatte nur Jennifer als Gesellschaft. Die Männer aus der Nachbarschaft, die ihr halfen, waren müde, sorgten sich um Traktorpannen, Mangel an Regen und Viehfutter. Ihre Frauen führten ein ausgefülltes, arbeitsreiches Leben. Christina konnte nicht Auto fahren, und ein Ausflug in die Stadt per Bus oder mit einem Nachbarn war ein seltenes Vergnügen. Gespräche mit ihrer Tochter drehten sich um Jennifers Interessen. Tagsüber führten Radiosendungen Christina vor Augen, wie isoliert sie war. Die Abende verstrichen vor dem Fernseher mit amerikanischen Sitcoms.
Jennifer erinnerte sich später stets an die Freiheit, die sie während dieses Jahrs auf der Farm genoss. Ihre Mutter sagte ihr, sie müsse sich selbst beschäftigen. So vergrößerte sich die Welt des kleinen Mädchens, was zur Entdeckung ihrer selbst und zu Abenteuern führte. Kein Daddy oder Bruder waren da, um sie zu beschützen, andererseits gab es auch niemanden, der ihre Aufmerksamkeit auf Dinge lenkte, die sie seines Erachtens hätte tun müssen. Stattdessen entdeckten ihre Augen und ihr Forscherdrang allerlei Faszinierendes: Pflanzen, kleine Lebewesen, Vögel und den unbekannten Busch da draußen. So konnte sie, zum Beispiel, stundenlang, alles um sich herum und auch die Zeit vergessend, auf dem Boden hocken und eine Prozession von Ameisen beobachten, die ihre Last zum Bau trugen, oder eine Raupe, die mit unhörbaren Bissen an einem Blatt fraß, oder einen Vogel, der seine Jungen fütterte.
Es war eine Zeit, die ihr die Augen öffnete für eine andere Welt. Eine
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