Die Korallentaucherin
Hand: Man dürfe sich nicht auf andere verlassen, schon gar nicht auf Männer.
Jennifer wünschte sich einen Vater. Sie beneidete ihre Schulfreundinnen, die Väter hatten, mit denen sie Ausflüge unternahmen oder die eben einfach nur da waren. Erinnerungen an ihren eigenen Vater wurden wach und brachten sie zum Weinen. Je länger sie über die Ablehnung ihrer Mutter von männlichen Gefährten nachdachte, desto größer wurde ihre Angst, es könnte ihre Schuld sein. Dann kam ihr ein erschreckender, furchtbarer Gedanke. Konnte es sein, dass Mr.Teddich, weil sie versucht hatte, hübsch auszusehen und nett zu sein, glaubte, sie wollte mit ihm flirten? Dass sie frühreif und aufreizend wäre? Bestimmt nicht. Aber es war durchaus möglich, dass ihre Mutter ihr Verhalten so auslegte. Jennifer schämte sich bei dem Gedanken und fühlte sich schuldig daran, die Heiratschancen ihrer Mutter verdorben zu haben.
Christina musste Jennifer nicht drängen, nach der Schule einen Job anzunehmen. Sie war sich der angespannten Finanzlage deutlich bewusst, und deshalb nahm sie einen Gelegenheitsjob als Bürokraft für den Nationalpark an. Sie unterstützte zudem die beiden Ranger beim Zusammenstellen von Statistikmaterial, Fragebögen und Berichten. Sie fand die Informationen spannend und lernte nach und nach bedeutend mehr über ihre Heimatstadt, die Funktionen der umgebenden Parklandschaft und die Konflikte mit den Farmern, Baugesellschaften und Personen, die sich um das Wohl der Tiere und die Erhaltung des Buschlands bemühten.
Christina zeigte wenig Interesse für die Geschichten, die Jennifer von dem schweigsamen Ranger erfuhr, und drängte ihre Tochter immer wieder, sich der kommunalen Theatergruppe anzuschließen. »Du könntest hinter den Kulissen arbeiten, wie ich es tue. Ich weiß wohl, dass du nicht der Typ bist, der vor Publikum auf die Bühne tritt, aber du musst lernen, unter Menschen zu gehen, Jennifer. Du bist so ein Mauerblümchen.«
»Schon gut, Mum, du bist der Star in unserer Familie.«
Christina entging die Ironie in Jennifers Stimme. »Bei der Arbeit hat neulich jemand gesagt, ich sollte Schauspielerin werden.« Sie lächelte. »In dieser Welt musst du den Mund aufmachen, Jennifer. Das Rad, das quietscht, kriegt das Öl. Niemand hilft dir. Ich möchte nicht, dass du für andere der Fußabtreter bist.«
»Ich komme schon zurecht, Mum. Die Leute sind mir gegenüber immer freundlich und hilfsbereit.«
»Das liegt daran, dass du noch so jung und unschuldig bist. Du bist so weich. Du musst härter werden, wenn du mal vor einer Klasse voll lauter, ungezogener Gören stehen willst.«
Jennifer seufzte und wandte sich ab. Ihre Mutter hatte sich in den Kopf gesetzt, dass Jennifer Grundschullehrerin werden sollte. Darüber wurde nie diskutiert. Ihre Mutter hatte die Vorstellung, dass es ein Beruf mit guten Aussichten wäre. Sie sprach ausführlich über das, was sie von einer der Lehrerinnen gehört hatte, die häufig die Bibliothek besuchten, und war zu der Überzeugung gekommen, dass es Jennifers Berufung wäre. Ihre Tochter wurde nicht gefragt. Jennifers Berufsberater in der Schule waren ebenfalls der Meinung, dass der Beruf des Lehrers das Richtige für sie wäre. Also suchte Jennifer ihren Mentor auf und erkundigte sich nach Universitätsabschlüssen in Pädagogik. Nach einem Blick auf Jennifers gute Noten und im Wissen über die finanzielle Situation ihrer Mutter half er ihr beim Ausfüllen einer Bewerbung für ein Stipendium.
Erst als Jennifer und ihre Mutter nach der Schulabschlussfeier, auf der Christina sich im Erfolg ihrer Tochter gesonnt hatte, nach Hause gingen, verkündete Jennifer, dass sie sich an der Universität von Sydney bewerben wollte.
Ihre Mutter schüttelte in trauriger Resignation den Kopf. »Das ist ja alles gut und schön, aber ich kann es mir absolut nicht leisten, dir das Studium zu finanzieren. Und wozu die Mühe? Du kannst auch an der hiesigen Universität auf Lehramt studieren.«
»Dank meiner guten Noten bekomme ich ein Stipendium, Mum. Das und der Zuschuss vom Staat reichen für die Unterbringung und einige Extras. Und wenn ich dann noch einen Teilzeitjob annehme, kann ich billig auf dem Campus wohnen und meinen Unterhalt bestreiten. Mit einem Hochschulabschluss habe ich Aussicht auf eine besser bezahlte Stelle.« Sie holte tief Luft, um ihre nächste Ankündigung so beiläufig wie möglich vorzubringen. »Ich habe meine Möglichkeiten geprüft, und was mich wirklich
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