Die Kornmuhme (German Edition)
trafen.
>> Das geht nicht mehr
<<, hatte vor allem Reinulf immer wieder gesagt, und dabei hilfesuchend
seine Frau angeschaut. Lioba blickte betreten auf den Boden und sagte nichts.
Dann, nach einem langen Schweigen, und ohne Reinulfs Blick zu erwidern, sagte
sie mit bebender Stimme:
>> Wir bitten den
Allmächtigen um Beistand. Wir müssen nur vertrauen haben, dann wird alles gut gehen.
<<
Sie beteten. Reinulf fühlte sich
trotzdem allein und drückte das Kreuz, das um seinen Hals hing, fest an seine
Brust.
Lioba blickte stumm ins Feuer, bis
sie David riefen und in ihre Mitte stellten. Keiner wagte so recht dem Kleinen
in die Augen zu schauen, und in allen Gesichtern spiegelte sich Sorge und Schuld
wieder.
Irgendwann klopfte es, und Fin,
einer der beiden Brüder vom Hügel, steckte den Kopf herein, um Bescheid zu
geben, dass die Leichen nun endlich verscharrt seien. Keiner der Dorfbewohner
wollte so recht das Fleisch des Pferdes verwerten. Wer wusste schon, ob Grylas
mächtiger Zauber es nicht vollständig verseucht hatte. So war es ebenfalls
verscharrt worden. Reinulf wechselte mit Fin noch ein paar leise Worte und
schloss dann wieder die Türe.
Lioba nestelte am Gürtel des
kleinen Jungen, als gäbe es noch irgendetwas, das sie daran befestigen müsste.
Ranja starrte auf die Finger ihrer Mutter, die schon seit einer gefühlten
Ewigkeit scheinbar ziellos am Körper ihres Bruders auf und ab irrten, und hier
und da immer wieder das Fell und den Umhang gerade rückten, oder den Gürtel
strafften. Vielleicht brauchte Lioba einfach das Gefühl, dass sie ihrem Sohn
noch etwas Gutes tun konnte, bevor sie ihn ins Ungewisse schickte. Ihr Gesicht
war von einem unübersehbaren Schuldgefühl und von tiefem Schmerz gezeichnet.
Tränen rannen über ihre schmalen Wangen, und ihre Lippen bewegten sich endlos
im stummen Gebet. Die Strähnen ihres roten Haares hingen wirr in ihre Stirn,
und obwohl sie nur ein leichtes Nachtkleid trug, und der Wind durch die Ritzen
pfiff, schien sie zu schwitzen.
David - der Auserwählte, Besieger
Goliaths. Ob die Alte vom Raunewald es wohl wusste? Ob sie sich nachts in ihre
Träume schlich, um Dinge wie diese herauszufinden? Niemand wusste es. Der
Kleine stand regungslos in der Mitte des Raumes und ließ das Unabwendbare mit
sich geschehen. Er wirkte ernst, aber völlig gefasst. Ab und zu holte er das
kleine Holzkreuz hervor, das um seinen Hals hing, und betrachtet es bedächtig.
Wie es wirklich in dem Sechsjährigen aussah, konnte Ranja nur erahnen. Wahrscheinlich
war er sich nicht wirklich bewusst darüber, in welche Gefahr er sich begab.
Man sagte von der Alten, sie wäre
schon seit ewiger Zeit mit den dunkelsten Mächten verbunden. Alle hofften, sie
würde dem Kind nichts anhaben können. Seine Reinheit und sein Glaube war das
Mächtigste, aber auch das Einzige, was es ihr entgegenzusetzen hatte. David war
von allen Urmitzern tatsächlich der einzige, der diese Reise gefahrlos auf sich
nehmen konnte.
Das Böse konnte nämlich nur nach
einer Seele greifen, die ihm zuvor schon einmal Einlass gewährt hatte. Was
jedoch noch wichtiger war: Davids reine, unschuldige Seele war durch das
Bekenntnis zu diesem neuen Gott geschützt. Es war eine Sache, dass die
Gryla jemanden töten konnte. Schlimmer war jedoch, wenn sie eine Seele in
Besitz nahm – gerade tagsüber, wenn sie nicht körperlich im Raunewald anwesend
sein konnte. Jeder Urmitzer hatte Angst davor, eine willenlose Marionette des
Bösen zu werden. In so manchem Albtraum hatte Ranja ihren Bruder vor sich
gesehen, wie er mit starren Augen und einer Axt versuchte, ins Haus
einzudringen.
David war gerade so alt, dass er
die Erklärungen seiner Eltern und die Wichtigkeit dieses Vorhabens verstand,
und gleichzeitig noch jung genug, um bisher keine wirkliche Schuld auf sich
geladen zu haben. So ruhten alle Hoffnungen auf diesem kleinen Jungen, der nun
ausgeschickt wurde, um als erster Urmitzer überhaupt den Raunewald zu verlassen
und in den Flüsternden Grund zu gelangen. Dort sollte er den alten Zagel, einen
rastlosen, mächtigen Waldgeist, der außerhalb von Grylas Waldgrenze herrschte,
im Namen der Urmitzer zu einem Wettstreit heraus fordern. Genauer gesagt: in
Arons Namen, dem Knecht des Wirts, der gerade nicht zugegen war, da er seiner
Arbeit nachging.
Zagel, eigentlich Riebezagel
genannt, war ein Spieler, manchmal mit dem Charakter eines unberechenbaren,
garstigen Kindes, der es liebte, um das Leben seiner Herausforderer zu
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